Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten - eine Einführung
Martin R. Textor
In den letzten Jahrzehnten erfolgten eine Expansion und Ausdifferenzierung von Jugendhilfeeinrichtungen und anderen psychosozialen Diensten, die für Familien relevant sind (Textor 1998). Auch vergrößerte sich die Zahl von Selbsthilfegruppen und -organisationen. Zugleich entstanden viele neue Arbeitsformen für den Umgang mit Klient/innen und ihren Problemen (Textor 1988). Das entstandene System ganz verschiedener Hilfsangebote und Akteure ist sowohl für potentielle Klient/innen als auch für Fachleute wie Psycholog/innen, Sozialpädagog/innen und Erzieher/innen unüberschaubar geworden. Hinzu kommt, dass sich vielfach die Tätigkeitsfelder von Institutionen überschneiden, ihre Angebote miteinander konkurrieren und selbst psychosoziale Dienste gleichen Namens unterschiedlich arbeiten.
Diese Situation ist aus fachlichen Gesichtspunkten (z.B. Kindeswohl, Interesse der Klient/innen) kaum noch zu verantworten. So gibt es erste Versuche, der Problematik abzuhelfen: Zum einen werden beispielsweise Beratungsführer für Hilfesuchende erstellt oder Bürgerbüros als zentrale Anlaufstellen eingerichtet. Zum anderen wird versucht, Jugendhilfeeinrichtungen und andere psychosoziale Dienste miteinander zu vernetzen, so dass die Mitarbeiter/innen wissen, was die Kolleg/innen in anderen Institutionen für Aufgaben haben und welche (sozial-/heil-) pädagogischen, psychologischen oder sonstigen Arbeitsformen sie einsetzen (vgl. Bergold/Filsinger 1993; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1997). Auf diese Weise soll auch sichergestellt werden, dass Hilfesuchende direkt an die richtige Stelle vermittelt werden.
Für Vernetzungsaktivitäten gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Gründe bzw. Ziele: die aus der Lebenswelt- und Gemeinwesenorientierung der sozialen Arbeit resultierende Notwendigkeit einer umfassenden Sichtweise (Verknüpfung verschiedener Perspektiven), die Komplexität der Notlagen vieler Klient/innen mit der Folge der Indikation verschiedener Maßnahmen durch mehrere psychosoziale Dienste, das Bestreben nach wechselseitiger Ergänzung der Tätigkeit verschiedener Organisationen, das Erzielen von Synergieeffekten, die ressortübergreifende soziale Planung, der Wunsch Betroffener nach Partizipation und Mitbestimmung, die Schaffung strategischer Bündnisse in einer Zeit abnehmender Bedeutung von Jugendhilfe- und Familienpolitik sowie immer knapper werdender Mittel, das Streben nach Einmischung in andere Politikbereiche im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII, die effizientere Mittelverwendung, die gemeinsame Nutzung von Ressourcen, die Sicherstellung eines Qualitätsstandards u.v.a.m. (vgl. Langnickel 1997). All dies bedingt die Notwendigkeit einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen und psychosozialen Diensten, zwischen freien und öffentlichen Trägern.
Inzwischen gibt es vielerorts psychosoziale Arbeitskreise, Stadtteilkonferenzen und andere Arbeitsgemeinschaften, die der Vernetzung von Jugendhilfeeinrichtungen und anderen psychosozialen Diensten dienen. Jedoch sind Kindertagesstätten nur selten vertreten, wozu sicherlich ihr "Zwittercharakter" beiträgt - sie sind sowohl Teil des Bildungswesens (Elementarbereich) als auch des Jugendhilfesystems (§§ 22 ff. SGB VIII). Die mangelnde Einbindung von Kindertagesstätten in Vernetzungsaktivitäten bzw. Jugendhilfenetzwerke ist aus mehreren Gründen unverständlich:
- Tageseinrichtungen für Kinder bilden den bedeutendsten Bereich der Jugendhilfe: Beispielsweise machten sie am 31.12. 1994 genau zwei Drittel aller 70.821 Jugendhilfeeinrichtungen aus, waren zwei Drittel aller 549.293 Beschäftigten der Jugendhilfe in ihnen tätig (Statistisches Bundesamt 1996). Es ist verwunderlich, dass ein so großer Bereich der Jugendhilfe bei Vernetzungsaktivitäten weitgehend unberücksichtigt bleibt.
- Kindertagesstätten sind die einzigen Jugendhilfeeinrichtungen, die mit allen Familien in Kontakt kommen, in denen Kinder zwischen drei und sechs Jahren leben, aber auch mit vielen Familien mit jüngeren und älteren Kindern. Damit sind sie prädestiniert für präventive Angebote, also z.B. in den Bereichen des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes (§ 14 SGB VIII), der Familienbildung (§ 16 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII) und der Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung von Kindern (§ 16 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII). Machen psychosoziale Dienste Angebote für Eltern in Kindertageseinrichtungen (z.B. Gesprächsrunden), können deren Eriehungsfragen bzw. -schwierigkeiten besprochen und ihre Kompetenzen erweitert werden. Die Eltern werden dann besser mit Kindern umgehen, so dass der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten vorgebeugt wird oder erste Auffälligkeiten abgebaut werden können (vgl. Ötting/Göres/Hofmann 1996; Winter 1996). Auf diese Weise kommen auch die psychosozialen Dienste ihrem präventiven Auftrag nach.
- Erzieher/innen haben ein unbelastetes und sehr positives Verhältnis zu Eltern - im Gegensatz zu Mitarbeiter/innen anderer Jugendhilfeeinrichtungen. Auch genießen ihre Angebote für Eltern eine hohe Wertschätzung. Beispielsweise ergab eine Umfrage bei 1.067 "Kindergarteneltern" aus Niederbayern (Textor 1997), dass diese den Kontakt zu den Erzieher/innen mit der Durchschnittsnote 1,56 beurteilten. Die 46 ausgewerteten Angebote der Elternarbeit wurden nach sieben Kriterien mit der Durchschnittsnote 2,14 bewertet. Man kann somit davon ausgehen, dass Erzieher/innen zum einen in hohem Maße das Vertrauen der Eltern genießen und häufig sehr frühzeitig von deren Problemen und Erziehungsschwierigkeiten erfahren und dass sie zum anderen durch ihre Angebote der Elternarbeit einen großen Einfluss auf die Familienerziehung ausüben können.
- Erzieher/innen beraten Eltern in Erziehungsfragen und vermitteln sie an Jugendhilfeeinrichtungen weiter. Beispielsweise ergab eine Pilotstudie (Textor 1992), dass rund die Hälfte der befragten 269 Eltern mit den Fachkräften im Kindergarten über Erziehungsfragen sprach; 58% von ihnen erlebten die Gespräche als hilfreich, weitere 38% zumindest als etwas hilfreich. Ferner wurden 13% der Eltern auf Hilfsangebote anderer psychosozialer Dienste aufmerksam gemacht; mehr als 82% von ihnen suchten die jeweilige Einrichtung auf. Hier wird deutlich, dass Kindertagesstätten schon jetzt eine wichtige Rolle als Vermittler von Maßnahmen der Jugendhilfe zukommt. Sie kooperieren allerdings überwiegend mit Erziehungsberatungs- oder/und Frühförderstellen - eine bessere Vernetzung könnte zu einer Ausweitung des Kreises der Kooperationspartner führen. Zugleich könnte eine Intensivierung der Zusammenarbeit dazu führen, dass Familien sehr früh an psychosoziale Dienste weitervermittelt werden - solange die Probleme noch nicht verfestigt sind und damit leichter gelöst werden können. Der Aufwand für die psychosozialen Dienste ist dementsprechend geringer, eventuell entstehende Kosten dürften niedriger sein. Folgekosten für die Gesellschaft, die entstehen, wenn z.B. Eheprobleme - die bei einer frühzeitigen Beratung von den Partnern hätten gelöst werden können - zur Trennung und Scheidung führen, könnten vermieden werden (vgl. Klann/ Hahlweg 1995; Peterander et al. 1992).
- Nach verschiedenen Untersuchungen und Befragungen (zusammengefasst bei Mayr 1997a) sind durchschnittlich mindestens 13% der Kinder in Kindertageseinrichtungen verhaltensauffällig, leiden 10% unter Teilleistungsschwächen und weisen mindestens 15% Sprech- und Sprachstörungen auf. Sind psychosoziale Dienste in Kindertageseinrichtungen präsent oder fördern sie die diagnostischen Fertigkeiten von Erzieher/innen, können behinderte, entwicklungsverzögerte und verhaltensauffällige Kinder besonders frühzeitig erfasst werden (Früherkennung). Da viele dieser Auffälligkeiten im Kleinkindalter noch nicht verfestigt sind, können sie mit einem weitaus geringeren Aufwand als bei älteren Kindern behoben werden. Wenn Erzieher/innen in die Beratung von Eltern oder die Behandlung eines Kindes durch Mitarbeiter/innen psychosozialer Dienste eingebunden werden, können deren Kenntnisse über den jeweiligen Fall genutzt werden. Gemeinsam kann der Hilfeplan erstellt, können Vorgehen und Verhalten gegenüber den jeweiligen Eltern bzw. dem Kind abgestimmt werden (vgl. Mayr 1998a). Auch können Erzieher/innen im Umgang mit dem Kind angeleitet werden, wobei sie - praktisch nebenher - heil- bzw. sonderpädagogische oder psychologische Kompetenzen erwerben. Wenn psychosozialer Dienst und Kindertagesstätte "am gleichen Strang ziehen", dürften Beratung bzw. Behandlung eher und schneller zum Erfolg führen (geringerer Aufwand, Synergieeffekte).
- Wenn psychosoziale Dienste mit Kindertageseinrichtungen und/ oder Kindergarteneltern auf die skizzierte Weise Kontakt aufnehmen bzw. in den Einrichtungen präsent sind, können sie ihre Aufgaben und Leistungen besser bekannt machen (Öffentlichkeitsarbeit, Profilierung). Auch kann verdeutlicht werden, dass Beratung eine alltägliche Dienstleistung ist, die jedes Jahr von Millionen Menschen genutzt wird (Straus/Höfer/Gmür 1988, S. 287ff.). Außerdem können Vorurteile, Hemmschwellen und Ängste reduziert werden.
- Haben psychosoziale Dienste Kontakt zu Kindergärten oder sind sie dort präsent, lernen sie eine bedeutende Lebenswelt von Kleinkindern kennen. Sie erfahren, wie Kinder in Kindertageseinrichtungen gefördert werden, welche Herausforderungen sie dort zu meistern haben, mit welchen Problemen sie kämpfen und wie sich ihre Erzieher/innen verhalten. Dies kann ihnen bei ihrer Arbeit mit Kleinkindern von Nutzen sein. So muss bei Berücksichtigung der systemischen Perspektive (vgl. Textor 1990) davon ausgegangen werden, dass z.B. Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten auch im System "Kindertagesstätte" liegen (Teuber 1996) oder Probleme nur dort auftreten können. Die Interventionen müssten dann den Kindertageseinrichtung einbeziehen und unter Umständen auch Verhaltensänderungen bei der Erzieherin anzielen (vgl. Flosdorf 1996).
Diese Aussagen verdeutlichen, dass eine intensivere Zusammenarbeit von sozialen Diensten und Kindertageseinrichtungen von großem Vorteil für Familien und (Klein-) Kinder ist. Beispielsweise profitieren "Problemkinder" von einer frühzeitigen Intervention, da ansonsten ihre Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsrückstände die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes behindern und negative Folgen für soziale Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen haben würden (Mayr 1998b). So haben Längsschnittstudien gezeigt, dass die weitaus meisten Kinder - ohne Intervention - verhaltensauffällig bleiben und später oft kriminell werden oder Drogen missbrauchen. Durch sie wurde aber auch nachgewiesen, "dass frühe Förderungs- und Präventionsprogramme in der Lage sind, die Wirkungsketten zwischen frühkindlichen Störungen und späteren Problematiken effektiv zu durchbrechen" (Mayr 1997a, S. 152).
Alle für die Jugendhilfe und den Sozialbereich Verantwortlichen sollten sich deshalb für die Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten einsetzen. Eine besondere Verantwortung kommt hier laut dem Kinder- und Jugendhilfegesetz den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe zu, insbesondere den Jugendämtern. Dies lässt sich z.B. aus den §§ 79 (Gesamtverantwortung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe) und 81 SGB VIII (Zusammenarbeit der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit Schulen, Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Polizei, der Justizvollzugsbehörden usw.) folgern. Relevant ist auch § 78 SGB VIII: "Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen die Bildung von Arbeitsgemeinschaften anstreben, in denen neben ihnen die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe sowie die Träger geförderter Maßnahmen vertreten sind. In den Arbeitsgemeinschaften soll darauf hingewirkt werden, dass die geplanten Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden und sich gegenseitig ergänzen." Außerdem kommen dem Jugendhilfeausschuss (§ 71 SGB VIII) Vernetzungsfunktionen zu. Das in diesem Bericht beschriebene IFP-Projekt "Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten" berücksichtigt die große Verantwortung öffentlicher Träger der Jugendhilfe für die Einbindung von Kindertagesstätten in das Sozialsystem, indem mit mehr als 30 bayerischen Jugendämtern zusammengearbeitet wird.
Vorteile für Kindertageseinrichtungen
Jedoch sind auch die Kindertagesstätten selbst für eine bessere Vernetzung mit Jugendämtern, Beratungsstellen und anderen Jugendhilfeeinrichtungen verantwortlich. Deshalb wird im Rahmen des IFP-Projekts "Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten" mit 18 Kindertagesstätten zusammengearbeitet, um deren Möglichkeiten, Vorgehensweisen und Erfahrungen zu erfassen.
Erzieher/innen berichten immer wieder, dass frühkindliche Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen und andere Störungen zunehmen, größer und extremer werden (z.B. "gewalttätige" Kleinkinder). So gaben die von Gleich (1993) befragten 296 Erzieherinnen aus katholischen Kindergärten in Nordrhein-Westfalen ihre Belastung durch Verhaltensauffälligkeiten der betreuten Kinder auf einer dreistufigen Skala mit durchschnittlich 1,4 an, wobei die Zahl "1" für "stark" und "3" für "überhaupt" nicht stand. Dieser Wert von 1,4 erwies sich als der größte Belastungsfaktor - er lag viel höher als z.B. die Mittelwerte zur Belastung durch die Anzahl der zu erziehenden Kinder, durch die Erwartungen des Trägers, durch die Anforderungen der Kinder oder diejenigen der eigenen Familie. Erzieher/innen müssen aber nicht nur mit "Problemkindern" richtig umgehen können, sondern auch mit "Problemfamilien": Sie erfahren häufig von familialen Belastungen wie Trennung und Scheidung, Alleinerzieherschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, Versorgung pflegebedürftiger bzw. behinderter Familienmitglieder usw.
Erzieher/innen stoßen oft an ihre Grenzen, wenn sie mit verhaltensauffälligen bzw. psychisch gestörten Kindern oder mit Familienproblemen konfrontiert werden. Es fehlen Zeit und Qualifikation für heilpädagogische oder gar therapeutische Maßnahmen, für eine gründliche Diagnostik und längere Beratungsgespräche. Bei noch so viel gutem Willen können die Probleme vieler Kinder oder ihrer Familien seitens des Kindergartens nicht gelöst werden. Hinzu kommt, dass die Eltern vielfach nicht zu motivieren sind, von sich aus aktiv zu werden und ihr Verhalten zu ändern oder Beratungsangebote zu nutzen. So stellte z.B. Mayr (1997a) bei einer Befragung von rund 250 Erzieher/innen fest: "Fast 60% der befragten Gruppenleiterinnen haben grundsätzlich Zweifel, ob Kinder mit Entwicklungsstörungen in der Regeleinrichtung ausreichend gefördert werden können und sind der Ansicht, dass diese Kinder in sonderpädagogischen Einrichtungen besser aufgehoben sind" (S. 154). So ist es nicht verwunderlich, dass in Bayern die Anzahl der Kinder, die in Schulvorbereitenden Einrichtungen betreut werden, von 1983 bis 1994 von rund 4.600 auf 8.600 anstieg, also um fast 90% (Mayr 1998a, S. 97).
Diese Einstellung und die daraus resultierende Entwicklung sind sicherlich nicht zu begrüßen. So sollte zum einen versucht werden, Erzieher/innen für den Umgang mit "Problemkindern" und "-familien" besser zu qualifizieren, z.B. durch die Vermittlung von mehr heilpädagogischen Kompetenzen. Ferner ließen sich die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit verbessern (z.B. kleinere Gruppen) oder könnte bei vielen "Problemkindern" nach § 5 Abs. 3 3.DVBayKIG eine zusätzliche Fachkraft eingestellt oder die Gruppenstärke abgesenkt werden. Zum anderen muss ihnen verdeutlicht werden, dass es in vielen Fällen darauf ankommt, den betroffenen Kindern bzw. Familien Hilfsmöglichkeiten in Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland zu erschließen sowie selbst mit psychosozialen Diensten zu kooperieren. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist eine gute Einbindung der Kindertagesstätten in das Netzwerk von Jugendhilfeeinrichtungen.
Fthenakis und seine Koauthoren (1995a, b) befragten 166 bzw. 196 Kindergartenleiter/innen sowie 318 bzw. 328 Gruppenleiter/innen in Bayern zum Thema "Vernetzung" (es handelte sich um insgesamt vier Befragungen). 51% der Kindergartenleiter/innen und 46% der Gruppenleiter/innen bezeichneten die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen im Umfeld als das derzeit vordringlichste Thema im Kindergartenbereich - es sei wichtiger als beispielsweise das gruppenübergreifende Arbeiten in der Einrichtung, die Auflösung fester Gruppen, die integrative Erziehung behinderter Kinder, die interkulturelle Erziehung, die Öffnung der Einrichtung für Eltern und andere Erwachsene, die pädagogische Mitarbeit von Eltern oder bedarfsgerechte Öffnungszeiten. Eine große Rolle spielt die Vernetzung z.B. in der Zusammenarbeit mit Eltern: 71% der Kindergarten- und 68% der Gruppenleiter/innen bezeichneten es als "sehr wichtig" (sowie 28 bzw. 30% als "wichtig"), Eltern bei Bedarf zu unterstützen, mit anderen Einrichtungen Kontakt aufzunehmen.
Erzieher/innen haben also die Notwendigkeit einer Vernetzung mit psychosozialen Diensten erkannt. Fthenakis und Kollegen (1995a, b) ermittelten, dass Kindergartenleiter/innen im Durchschnitt 2,5 Std. ihrer Arbeitszeit pro Woche und Gruppenleiter/innen 0,8 Stunden auf die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen (Behörden, Schulen, Erziehungsberatungsstellen, Frühförderung usw.) verwendeten. 57 bzw. 62% der Befragten waren allerdings der Meinung, dass dieser Zeitaufwand zu gering sei.
Erzieher/innen werden entlastet, wenn ein verhaltensauffälliges oder entwicklungsverzögertes Kind in der Kindertageseinrichtung oder in den Räumen einer Frühförderstelle, Erziehungsberatungsstelle, Praxis usw. von Psycholog/innen, Heilpädagog/innen, Logopäd/innen, Ergotherapeut/innen oder anderen Spezialisten behandelt wird und dann weniger Probleme macht. Besonders schätzen sie Mobile Dienste, wie sie von einigen der 114 Frühförderstellen in Bayern eingerichtet wurden - die übrigens jedes Jahr mehr als 15.000 Kinder betreuen (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit 1994, S. 54). Beispielsweise ergab eine Befragung von rund 250 Gruppenleiter/innen über den Pädagogisch-Psychologischen Dienst (PPD), dass 70% mit ihm zufrieden oder sehr zufrieden waren - nur 1,2% waren wenig zufrieden. Mehr als die Hälfte der Erzieher/innen fühlte sich durch den PPD oft oder sehr oft entlastet, nur 10% selten (Mayr 1998b, S. 84ff.). Neben Mobilen Diensten von Frühförderstellen gibt es auch solche von Förderschulen, auf die Erzieher/innen zurückgreifen können - im Schuljahr 1996/97 wurden in Bayern mehr als 6.600 Vorschulkinder von Mobilen sonderpädagogischen Diensten betreut (Mayr 1998a, S. 98). Aber auch mit mobilen Dienstleistungen von Erziehungsberatungsstellen wie Elternsprechstunden in der Kindertagesstätte, Elternabenden oder Fallbesprechungen haben Erzieher/innen positive Erfahrungen gemacht (Ötting/Göres/Hofmann 1996; Spindler et al. 1995; Winter 1996).
Kommt es bei Einzelbehandlungen zu intensiveren Kontakten zwischen Fachleuten Mobiler Dienste (oder ambulanter Einrichtungen bzw. Praxen) und den Erzieher/innen, so können sich letztere oftmals "nebenbei" neue Fachkenntnisse, heilpädagogische Methoden und therapeutische Techniken aneignen. Die Erzieher/innen qualifizieren sich somit indirekt weiter, da ihnen die erworbenen Kompetenzen auch beim Umgang mit anderen "Problemkindern" helfen dürften. Mayr (1998b) schreibt sogar: "Zentrales Ziel eines therapeutischen Fachdienstes ist die Stärkung des Problemlösevermögens des Kindergartens, d.h. die Erweiterung seines Potentials, mit Problemkindern selbständig besser zu arbeiten" (S. 110).
Daneben können sich direkte Weiterqualifizierungsmöglichkeiten ergeben wie allgemeine oder themenzentrierte Beratung durch Mitarbeiter/innen des psychosozialen Dienstes, Fortbildungsveranstaltungen oder Einzel- und Teamsupervision (vgl. Flosdorf 1996). Durch solche Angebote, die in der Regel erst nach einer längeren und guten Zusammenarbeit mit der Erziehungsberatungsstelle oder einem anderen Dienst zustandekommen und oft von den Erzieher/innen angeregt werden müssen, werden entweder deren Kenntnisse und Kompetenzen generell erweitert oder fallbezogen in Bezug auf den Umgang mit einem bestimmten Kind. Zu letzterem kommt es auch, wenn der Fachdienst die Erzieherin an der Diagnoseerstellung und Hilfeplanung beteiligt (Fallbesprechung) und/ oder in die Behandlung des Kindes (bzw. Beratung der Familie) einbezieht. Dies setzt das Einverständnis der Eltern voraus.
Die genannten Vorteile können natürlich nur auftreten, wenn sowohl Kindertageseinrichtungen als auch psychosoziale Dienste die Notwendigkeit einer Kooperation erkennen, aneinander interessiert und füreinander aufgeschlossen, offen und gesprächsbereit sind. Beide Seiten sollten gleichberechtigt sein und ihr Verhältnis aktiv gestalten können. Beispielsweise ergab eine empirische Untersuchung, dass die Zufriedenheit von Erzieher/innen mit einem Mobilen Dienst (PPD) umso größer war, "je vertrauensvoller die Beziehung auf der persönlichen Ebene ist und je besser die Zusammenarbeit auf der sachlichen Ebene organisiert wird" (Mayr 1997b, S. 162). Ferner sollten Erzieher/innen auf der anderen Seite einen persönlich bekannten Ansprechpartner haben (personale Kontinuität). Ein häufiger Informationsaustausch bzw. ein kontinuierlicher Kontakt sind unverzichtbar. Das bedeutet natürlich, dass aufgrund des hohen Zeitaufwandes nur bedeutsame Kooperationspartner berücksichtigt werden können.
Quelle
Aus: Martin R. Textor (Red.): Vernetzung von Kindertageseinrichtungen mit psychosozialen Diensten. Zwischenbericht. München: Staatsinstitut für Frühpädagogik 1999, S. 6-10
Literatur
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