Was Schule heute leisten soll - Überlegungen zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung in der Schule

Martin R. Textor

 

Im Verlauf der letzten ein, zwei Jahrzehnte ist die Unzufriedenheit mit der Schule größer geworden. Beispielsweise wurde bei einer repräsentativen Umfrage, bei der 16-bis 18-Jährige 1983 auf dieselben Fragen antworteten wie Gleichaltrige im Jahr 1963, folgendes ermittelt: "Der Anteil derjenigen, die gern oder sehr gern zur Schule gehen, ging von 75% auf 43% zurück. Ein Rückgang um 32% - die Größenordnung ist selten" (Allerbeck und Hoag 1985, S. 78). Nur noch 14% der Jugendlichen hielten Lehrer für gerecht.

Viele Schüler erleben das Lehrer-Schüler-Verhältnis negativ, fühlen sich in großen Klassen isoliert und entfremdet, haben Probleme mit Klassenkameraden oder leiden unter Schulängsten. Als besonders problematisch gilt der aus zu hohen Leistungsanforderungen resultierende Schulstress, der oft mit Konkurrenzkampf, mangelnder Kooperation und Angst verknüpft ist. Dirx (o.J.) kritisiert: "Die Forderung einer bestimmten Leistung bleibt im Grunde immer ein Augenblickserfolg, für die Klassenarbeit, für das Zeugnis, für die Abgangsprüfung. Wenn wir annehmen, dass wir alle diese Fakten für das Leben lernen, dann machen wir uns etwas vor. In dieser Argumentation - dass die Schüler fürs Leben lernen - steckt ein grandioser Selbstbetrug der Schule" (S. 219).

Damit verbunden ist einerseits eine einseitige geistige Belastung; für die Schulung motorischer Fertigkeiten, die Erholung, das selbsttätige, kreative Handeln oder die Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses der Schüler bleibt wenig Raum. Andererseits wird Kindheit zunehmend auf die Zukunft hingelebt - auf das nächste Zeugnis, den Numerus clausus oder den späteren Beruf hin. Die Gegenwart, das Recht des Kindes auf Zufriedenheit und Glück, seine derzeitigen Bedürfnisse und Probleme, die freie Persönlichkeitsentfaltung und die Förderung individueller Fähigkeiten werden zu oft missachtet.

So ist mit Neulinger (1978) eine Neudefinition des Begriffs "Leistungsschule" zu fordern: "Nicht die Schüler, sondern die Schule hat in erster Linie etwas zu leisten. Diese Leistung am Kind erst hat das Ziel, im Verlauf des Erziehungsprozesses die Schüler zu bestimmten Leistungen zu ertüchtigen auf sozialer, emotionaler und intellektueller Ebene" (S. 141). Dementsprechend sollte der Schüler bzw. seine Persönlichkeitsentwicklung im Mittelpunkt stehen. Wenn es heißt "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir", dann geht es heute um die Aneignung intellektueller, emotionaler und sozialer Fertigkeiten, um Einstellungen und Werthaltungen, um Persönlichkeitsbildung. Durch bestimmte Fertigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften werden Heranwachsende für Arbeitgeber und die Gesellschaft interessant, weniger durch das angeeignete schulische Wissen.

Erzieherisches Lehrer-Schüler-Verhältnis notwendig

Schulische Erziehung, die nicht nur momenthaft auftreten soll, setzt ein erzieherisches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern voraus. Dieses muss im Gegensatz zu der natürlich vorgegebenen Eltern-Kind-Beziehung erst geschaffen werden - der Lehrer muss sich das Vertrauen seiner Schüler verdienen. Hier spielt die Persönlichkeit des Lehrers eine große Rolle nicht nur hinsichtlich der Vorbildwirkung, sondern in diesem Zusammenhang auch hinsichtlich des Vorhandenseins von Eigenschaften, welche die Entstehung eines erzieherischen Verhältnisses fördern.

Der Pädagoge Thalmann (1978) schreibt: "Ein Lehrer, der partnerschaftlich mit seinen Schülern zusammenarbeiten will, muss sich ihnen als ganze Person stellen; dazu gehört, dass er auch Gefühle von Betroffenheit, Enttäuschung und Ärger, ja auch von Ratlosigkeit gegenüber einzelnen Verhaltensweisen von Schülern zeigt" (S. 59). Das Lehrer-Schüler-Verhältnis sollte im Sinne des Religionsphilosophen Martin Buber (1962) Elemente einer Ich-Du-Beziehung enthalten, also dialoghaft sein. Dafür gilt: "Auf die Ganzheit des Zöglings wirkt nur die Ganzheit des Erziehers wahrhaft ein, seine ganze unwillkürliche Existenz" (S. 66). Zwei Personen begegnen einander in vollster Offenheit, nehmen einander ernst, akzeptieren einander als einzigartige Individuen und gehen unmittelbar aufeinander ein. In einem derartigen dialogischen Verhältnis kann der Lehrer in die Tiefen der kindlichen Persönlichkeit einwirken, dem Schüler bei der Personalisation helfen. Dabei darf er aber seinen großen Einfluss nicht missbrauchen, also z.B. eigene Werte und Einstellungen überstülpen. Vielmehr muss er den Selbstzweck des Kindes akzeptieren: Es sollte selbst sein Wesen und seinen Lebensweg bestimmen.

Ein derartiges erzieherisches Verhältnis ermöglicht auch die Beratung des Schülers bei individuellen, familialen und anderen Schwierigkeiten. Gerade in Problem- oder Krisensituationen ist der innere Kern eines Kindes oder Jugendlichen für "unstetige Formen" der Erziehung (Bollnow 1959) wie Erweckung, Ermahnung, Besinnung, Begegnung und Beratung zugänglich. Dann kann die Lebensführung entscheidend beeinflusst werden - eine risikoreiche Situation, die hohe Anforderungen an den Lehrer stellt. Dieser darf keinen Druck ausüben, seine Vorstellungen nicht aufdrängen und nicht manipulierend tätig werden. Vielmehr muss er dem Schüler selbstlos beistehen und ihm altersgemäße Entscheidungsfreiheiten zugestehen.

Nicht nur das Vorbild des Lehrers und die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung sind für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen von Bedeutung, sondern auch die Gestaltung der Schulumwelt und die Art der Lernangebote. So bestimmt die Raumgestaltung zum Teil das Wohlbefinden und die Leistungsbereitschaft von Schülern. Insbesondere beim Vergleich von Schule und Kindergarten ist der Unterschied eklatant: Das Klassenzimmer wirkt kühl, zweckmäßig und unpersönlich, der Gruppenraum warm, stimulierend und von Kinderhand gestaltet. Selbst am Arbeitsplatz von Erwachsenen sind oft mehr persönliche Dinge zu entdecken als in einer Klasse. Der weitere Lebensraum in der Schule, also die Gänge, der Pausenhof usw., wirken noch unpersönlicher. Es fehlen Räume und Ecken für Gespräche in den Pausen oder außerhalb des Unterrichts. Dadurch werden dialoghafte Beziehungen zwischen Schülern erschwert, wird die Sozialentwicklung nicht genügend gefördert.

Praktisches Lernen fördern und Hobbys einbeziehen

Die schulischen Lernangebote sind weiterhin zu sehr auf passives kognitives Lernen ausgerichtet. Der Pädagogikprofessor von Hentig (1976) schreibt über Stadtkinder: "Ihnen fehlen elementare Erfahrungen: ein offenes Feuer machen, ein Loch in die Erde graben, auf einem Ast schaukeln, Wasser stauen, ein großes Tier beobachten, es hüten, es beherrschen. Das Entstehen und Vergehen der Natur, die Gewinnung und Verarbeitung von Material zu brauchbaren, notwendigen Dingen werden dem Kind - wie den meisten Erwachsenen - vorenthalten" (S. 40). Somit sollte die Schule wieder mehr das praktische Lernen fördern, das Lernen durch Versuch und Irrtum, das Lernen durch Beobachtung. Schulgarten, Werken, das eigene Experimentieren im Physik- und Chemieunterricht, Exkursionen, Projektunterricht usw. bieten die Möglichkeit, Materialien und ihre Veränderung bzw. Verarbeitung praktisch kennenzulernen. Entstehen eigene Arbeitsprodukte, dann werden neue Fertigkeiten gelernt, wird die Körperbeherrschung besser, gewinnen die Schüler an Selbstachtung und Selbstbewusstsein.

Ähnliches gilt auch für Projekte wie das Schreiben und Aufführen eines Theaterstücks, das Drehen eines Films, der Befragung Erwachsener zu einem bestimmten Thema oder eigene Recherchen in Archiven und Bibliotheken. Hier erlernen die Kinder den Umgang mit Menschen, mit Gedachtem und Geschriebenem, werden ihre kreativen Fähigkeiten gefördert. Sie müssen sich bewähren, lernen am Ernstfall, da sie ähnliche Arbeiten wie berufstätige Erwachsene ausüben. Thalmann (1978) schreibt: "Es sei die These aufgestellt, dass ein Schüler mehr gelernt hat, wenn er Nachschlagewerke, Lexika, Wörterbücher, Fachliteratur schnell und richtig gebrauchen kann und wenn er Bescheid weiß, bei welchen Personen und Institutionen er sich bei Problemen beraten lassen kann, als wenn er abfragbare Inhalte lernt, die in der Regel rasch wieder vergessen werden" (S. 70).

Häufig dürfte es also sinnvoll sein, wenn der Lehrer Unterrichtsstunden als Problemlöseprozess konzipiert. Er schafft eine motivierende Ausgangssituation, formuliert eine Aufgabe, stellt Hilfsmittel zur Verfügung, gibt auf Fragen hin Auskunft - und lässt die Schüler selbst die Aufgabe bewältigen, Lösungen suchen und realisieren. Auch sollte den Kindern im Unterricht vermehrt die Möglichkeit geboten werden, sich mit sich selbst, ihren Klassenkameraden und ihrer Lebenswelt auseinanderzusetzen und erworbene Fertigkeiten einzubringen. Versteht der Lehrer seine Schüler als Partner im Lernprozess, wird er ihnen Mitwirkungsrechte und Mitverantwortung für den Unterricht einräumen.

Für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ist auch von Bedeutung, inwieweit die Schule ihre spezifischen Begabungen, Interessen und Fähigkeiten fördert. Die Nikolaus-Groß-Schule (1990), eine private Grund- und Hauptschule des Bistums Trier in Lebach, geht z.B. folgenden Weg: "Um Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen von Schülern entgegen zu kommen, bietet die Schuhe vielfältige Arbeitsgemeinschaften an. Sie reichen vom musisch-künstlerischen Bereich über Sport und Spiel, über Basteln, Fotografieren, über Computer und Sprachen, Schulgarten bis zu den Wettbewerben 'Jugend forscht', 'Schüler experimentieren' und 'Jugend trainiert für Olympia'" (S. 20). Gemeinsame Sportveranstaltungen mit einer Schule für Blinde, Sehbehinderte und Gehörlose fördern das Verständnis für Behinderte und das soziale Engagement.

Erziehung zur sozialen Verantwortung

Auch die Sozialerziehung in der Schule ist für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen wichtig. Team- bzw. Gruppenarbeit und Schülerprojekte, Klassen- und Schulfeste, Ausflüge und Schullandheimaufenthalte ermöglichen Kindern, ihre kommunikativen Fertigkeiten zu schulen und den Umgang mit Gleichaltrigen zu lernen. Durch das Besprechen von Konflikten im Unterricht können effektive Wege zur Konfliktlösung vermittelt werden. Hier können auch besondere Kursangebote hilfreich sein. Beispielsweise werden in Los Angeles Grundschüler als "Conflict-Busters" ausgebildet. In Kursen, bei denen viel Wert auf Rollenspiele gehegt wird, lernen die Kinder, wie man auf Spötteleien und Beschimpfungen am besten reagiert, wie man mit Drohungen umgeht, wie man zuhört und Konflikte auf gewaltfreie Weise löst. Es besserte sich nicht nur das Sozial-verhalten der Kinder in der Klasse und auf dem Pausenhof, sondern auch daheim: Die Eltern berichteten von positiven Auswirkungen, vor allem hinsichtlich der Geschwisterrivalität. Ferner wurde festgestellt, dass besonders aggressive Schüler friedfertiger wurden. Im Jahr 1990 hatten bereits mehr als 200 Lehrer einen Fortbildungskurs absolviert, in dem sie lernten, wie man Kinder als "Conflict-Busters" schult.

Noch weiter verbreitet sind in amerikanischen Schulen Programme, in denen ältere Schüler zu "Peer-Helpers" ausgebildet werden. Sie müssen sich für diese Kurse bewerben und ein Auswahlverfahren durchlaufen. Dann werden ihnen Grundkenntnisse über das menschliche Verhalten, Konflikt- und Problemlösungsprozesse, Gruppendynamik usw. sowie Fertigkeiten wie Zuhören, Klarifizieren von Gedanken und Gefühlen, Rückmeldung oder positive Verstärkung vermittelt. Großer Wert wird auch auf Selbsterfahrung und das Erkennen eigener Grenzen gelegt. Nach der Ausbildung kümmern sich "Peer-Helpers" um gleichaltrige oder jüngere Schüler mit Problemen, indem sie ihnen zuhören, mit ihnen über ihre Gedanken und Gefühle sprechen, Unterstützung bei der Problemlösung bieten oder sie an professionelle Helfer weitervermitteln. Ferner wirken sie als Tutoren, indem sie leistungsschwächeren Schülern Nachhilfeunterricht geben oder Lerngruppen betreuen. Sie kümmern sich um Schulanfänger, Schulwechsler, behinderte oder ausländische Mitschüler, nehmen sich als "großer Bruder" bzw. "große Schwester" besonders verschüchterter oder unsicherer Kinder an. Es ist offensichtlich, dass nicht nur Mitschüler von der Beratung und Betreuung durch "Peer-Helpers" profitieren, sondern dass auch diese selbst in ihrer Persönlichkeits- und Sozialentwicklung einen großen Wachstumsschub erleben: Sie werden reifer, sensibler, verständnisvoller und selbstsicherer.

Ganztagsschule schafft besondere Möglichkeiten

Es ist eindeutig, dass deutsche Schulen derartige Programme, Arbeitsgemeinschaften, freiwillige Sportveranstaltungen u.v.a.m. vermehrt anbieten könnten, wenn sie sich in Richtung auf Ganztagsschulen hin weiterentwickeln. Frau Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sagte in ihrer Einführungsrede auf der CDU-Anhörung "Für Kinder bleibt noch viel zu tun" (Bonn, 02.02.1988) zu diesem Thema: "Wir sollten auch aus der ideologisch verhärteten Diskussion herauskommen, nach der Ganztagsschule etwas mit sozialistischer Erziehung zu tun hat. Ich glaube nicht, dass jemand Margaret Thatcher oder General de Gaulle verdächtigt, sie hätten eine sozialistische Erziehung englischer oder französischer Kinder im Blick gehabt. Es geht darum, wie man auch Schulzeiten familienfreundlicher gestalten kann. In England und Frankreich ist es möglich, dass der Großteil der Eltern gemeinsam mit den Kindern das Haus verlässt und zurückkommt. Dies wirkt entlastend für beide, für Kinder wie für Eltern ..."

Ein ganztägiger Schulbetrieb würde auch die vielfach geforderte Öffnung der Schuhe zur Gemeinde hin ermöglichen. Dadurch könnte ihr Angebot um praktische und soziale Lernmöglichkeiten erweitert werden. In Großbritannien gibt es bereits viele dieser "Community Schools": "Was anderswo getrennt unterhalten wird, kommt hier zusammen: der Jugend- und der Altenclub, die Kneipe, Disko, Schule, Volkshochschule, Beratungsstelle und Werkstatt. In englischen Community Schools dürfen Vereine in der Regel dann die Einrichtungen nutzen, wenn sie auch Nicht-Vereinsmitglieder mitmachen lassen" (Zimmer 1984, S. 33). In Deutschland gibt es bereits ähnliche Ansätze: Im Schulzentrum Brauck, Gladbeck, betreut das Jugendamt einen Freizeitkeller, die katholische Kirche eine Arbeitsloseninitiative, die evangelische eine Teestube und der Stadtsportverband eine Folkloregruppe. An der Gesamtschule Köln-Porz gibt es eine Diskothek und einen Elternsportverein, an der Damaschke-Hauptschule in Berlin Kreuzberg Einrichtungen für türkische Erwachsene. Es ist offensichtlich, dass sich gemeinwesenorientierte Schulen für die Lebenswelt der Erwachsenen geöffnet haben, also weniger eine Kunstwelt sind. Sie bieten somit Kindern und Jugendlichen viel mehr Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten, was für deren Persönlichkeits- und Sozialentwicklung nur förderlich sein kann.

Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe sinnvoll

Bedenkt man, dass 20 bis 25% aller Schüler verhaltensauffällig sind oder unter psychischen Problemen leiden, wird offensichtlich, dass sich die Schule ihrer verstärkt annehmen sollte. Diese Kinder und Jugendlichen benötigen Lehrer, die sich auch als Erzieher und Berater verstehen. In vielen Fällen stoßen aber auch gute Lehrer schnell an ihre Grenzen, vor allem wenn die Problemursachen in der Familie oder dem weiteren sozialen Umfeld des Schülers liegen. So sind viele Eltern nicht gesprächsbereit. Oder es sind intensive Hilfsmaßnahmen und Beratungsgespräche angezeigt, die auch ein guter Lehrer nicht leisten kann. Jedoch kann die Schule durchaus derartige Hilfsangebote vermitteln. Voraussetzung ist, dass die Lehrer z.B. in der Aus- und Fortbildung über sie informiert werden, dass sie sich eine Liste der in ihrem Umkreis vorhandenen psychosozialen Dienste zusammenstellen, sich nach deren Arbeitsweise erkundigen und möglichst dort tätige Kontaktpersonen ausfindig machen. Dann können sie Eltern und ältere Schüler nicht nur auf Hilfsangebote hinweisen, sondern können diese auch grob beschreiben und einen ersten (telefonischen) Kontakt zu einem Ansprechpartner herstellen.

Die meisten relevanten Hilfsmaßnahmen dürften im Jugendhilfebereich zu finden sein. Dieser Sektor gilt als ein eigenständiges Sozialisationsfeld. Problematisch ist jedoch, dass sich Schule und Jugendhilfe in der Regel fremd bis ablehnend gegenüberstehen. So schreibt Mühlum (1988): "Die Schule sieht noch immer in der Jugendhilfe weniger den Partner als das geringgeschätzte 'Amt', dem Problemschüler überstellt werden mit der Erwartung, durch Disziplinierung und Anpassung einen reibungslosen Schulbetrieb zu gewährleisten. Umgekehrt betrachtet Jugendhilfe Schule weniger als Hilfe bei der Persönlichkeitsentwicklung, sondern vorrangig als Lernfabrik oder Paukanstalt, in der Schüler nach Maßstäben der Gesellschaft 'zugerichtet' werden,..." (S. 14). Erst wenn solche Vorurteile überwunden werden, kann es zu der angedeuteten fruchtbaren Kooperation kommen. Lehrer und Fachkräfte der Jugendhilfe müssen vermehrt aufeinander zugehen, sich gegenseitig besuchen oder miteinander in den bereits vielerorts vorhandenen psychosozialen Arbeitsgemeinschaften diskutieren. Dann können auch gemeinsam innovative Projekte entwickelt werden.

Beispielsweise kam man in den USA auf die Idee, straffällig gewordene Jugendliche während der Bewährung in Behinderteneinrichtungen einzusetzen (Murr 1990). Sie lernten dort, Verantwortung zu übernehmen, und gewannen an Selbstachtung. Die behinderten Kinder waren glücklich über den Kontakt mit nur wenig älteren Jugendlichen. Bei 83 von 105 delinquenten Schülern konnten positive Auswirkungen dieser Maßnahme festgestellt werden - sogar die Schulleistungen besserten sich.

Eine an manchen deutschen Schuhen bereits übliche Form der Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe ist die Schulsozialarbeit. Hier werden Sozialpädagogen im schulischen Kontext tätig, die entweder bei einem freien Träger der Wohlfahrtspflege, dem Jugendamt oder der Schuhe angestellt sind. Ihre Aufgaben sind vielfältig und von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Zu ihnen gehören beispielsweise:

  1. die Beratung von Schülern bei Problemen und Verhaltensauffälligkeiten, Vermittlung bei Konflikten zwischen Lehrern und Schülern, Hilfe bei der Berufsfindung, Fördergruppen zur Erlangung sozialer Kompetenzen;
  2. außerunterrichtliche Betreuung von Schülern, Einrichtung von Kommunikationsmöglichkeiten und Schülertreffs, Freizeitangebote, Ferienmaßnahmen, Arbeitsgemeinschaften;
  3. Hausaufgabenbetreuung, Mitwirkung bei Schulfahrten und Projektwochen, klassenbezogene Aktivitäten;
  4. Elternberatung, Leitung von Elternkreisen, Hausbesuche, Vermittlung von Hilfen anderer Einrichtungen;
  5. Beratung von Lehrern, beratungsorientierte Teilnahme am Unterricht; sowie
  6. Zusammenarbeit mit Arbeitsamt, Betrieben, Jugendamt, Wohlfahrts- und Jugendverbänden, Beratungsstellen, sozialen Diensten, Jugendhäusern usw.

Es ist offensichtlich, dass Schulsozialarbeiter Problemkindern, aber auch anderen Schülern, helfen und deren Persönlichkeitsentwicklung fördern können. Sie unterstützen Familien mit besonderen Belastungen, stellen die Betreuung von Kindern erwerbstätiger Mütter sicher, tragen zur Überwindung sozialer Benachteiligungen bei und fördern die Integration ausländischer Schüler.

Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Schuhe sich mehr der Persönlichkeitsentwicklung von Schülern widmen muss. Hierfür stehen ihr viele Wege offen, von denen nur einige in diesem Artikel angedeutet wurden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, dass Lehrer wieder mehr "Mut zur Erziehung" entwickeln und besser auf die Hauptaufgabe ihres Berufsstandes vorbereitet werden. So sollte in der Aus- und Fortbildung mehr Wert auf Pädagogik und Psychologie gelegt werden. Auch müssten an den Schulen Erziehungsfragen und das Verhalten gegenüber Problemschülern in Lehrerkonferenzen thematisiert werden. Schließlich könnte Lehrern Einzel- oder Gruppensupervision angeboten werden. Diese Maßnahmen haben sich im Sozialbereich seit langem bewährt. Supervision und Praxisberatung würden noch am ehesten zur Reflexion des eigenen Verhaltens gegenüber Schülern und Eltern, zur Suche nach den Ursachen und Motiven, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und früheren Erfahrungen, zum Analysieren von Beziehungskonflikten und Überschreiten eigener Grenzen führen. Sie würden die Verbesserung des erzieherischen Verhaltens, der Kompetenz im Umgang mit Problemkindern, der Beratungsfähigkeit und der Elternarbeit ermöglichen.

Quelle

Aus: Elternforum 1992, 24 (4), S. 5-9

Literatur

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Buber, M.: Reden über Erziehung. Heidelberg: Schneider Lambert 1962

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Hentig, H. von: Was ist eine humane Schule? München, Wien: Hanser 1976

Mühlum, A.: Schulsozialarbeit in der Bundesrepublik: Konzepte und Probleme. In: Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern (Hg.): Materialien zur Schulsozialarbeit 1. Aufgaben, Konzepte und Rahmenbedingungen. Stuttgart: Selbstverlag 1988, S. 12-34

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