Kindheit, Jugend und Familie: der Kontext der Jugendhilfe

Martin R. Textor

 

"Jugendhilfe ist zurzeit kein Thema von besonderem öffentlichen Interesse; dies hat Gründe im zurückgehenden Interesse an Jugendproblemen, in den abnehmenden Jahrgangsstärken der Heranwachsenden, aber auch im Glauben, der Aufwand für Jugendhilfe sei in den vergangenen Jahren hinreichend gewesen, und im Zweifel an der Leistungsfähigkeit institutionalisierter Jugendhilfe" (Achter Jugendbericht, S. 16). Schwerpunkte derzeitiger Politik beziehen sich auf die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Europapolitik sowie die Innere Sicherheit. Die Bevölkerungsentwicklung lässt erwarten, dass staatliche Mittel immer mehr zugunsten der Rentner umverteilt, aber auch verstärkt zum Ausgleich der Familienlasten (und zur Geburtenförderung) eingesetzt werden.

Diese Politik ist sehr kurzsichtig. Weiterhin werden große gesellschaftliche Veränderungen wie Anstieg der Scheidungsrate, Zunahme der Zahl von Teil- und Stieffamilien, mehr Frauenerwerbstätigkeit usw. weitgehend ignoriert. Es wird zu wenig berücksichtigt, dass immer weniger Kinder und Jugendliche in "geordneten" und entwicklungsfördernden Familienverhältnissen aufwachsen, dass viele mit arbeitslosen, suchtkranken oder behinderten Erwachsenen zusammenleben, misshandelt, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden, als Aussiedler oder Ausländer Diskriminierung erfahren. So werden vermehrt Angebote der Jugendhilfe, familienunterstützende und präventive Angebote sowie Maßnahmen zur Verselbständigung von Heranwachsenden benötigt.

In diesem Artikel sollen die Lebensverhältnisse von Minderjährigen und jungen Erwachsenen kurz skizziert und einige Konsequenzen für die Praxis der Jugendhilfe angedeutet werden. Dabei wird deutlich, dass es die Kindheit oder die Jugend nicht gibt: Das überlieferte und immer noch nachwirkende Bild vom Aufwachsen in einer vollständigen Mehrkinderfamilie mit einer nichterwerbstätigen Mutter, von der größeren Bedeutung der Schul- und Berufsbildung für männliche Jugendliche gegenüber weiblichen, vom reibungslosen Eintritt in die Arbeitswelt oder von der frühzeitigen Familiengründung ist obsolet geworden. Vielmehr ist heute eine Pluralisierung der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen festzustellen: Sie wachsen in verschiedenen Lebenswelten auf, die z.B. durch unterschiedliche Familienformen, Schularten, berufliche Ausbildungsgänge, Bezugsgruppen Gleichaltriger und Formen der Mediennutzung geprägt werden, aber auch durch sozioökonomische, schichtspezifische und regionale Faktoren. Dieses bedeutet, dass Fachkräften der Jugendhilfe nicht nur die Vielfalt der Lebenswelten bekannt sein sollte, sondern dass sie im Einzelfall auch die Gesamtheit relevanter Umweltbedingungen berücksichtigen müssen.

Neben der Veränderung der Lebenskontexte ist auch ein qualitativer Wandel von Kindheit und Jugend festzustellen, wobei Wechselwirkungen eine gewichtige Rolle spielen. Beispielsweise wird durch die Medien die Trennung zwischen den Lebensbereichen von Erwachsenen und Kindern zum Teil aufgehoben, werden beide Generationen als Konsumenten angesprochen, wird ihr Leben von Zeitplänen geprägt. Lernen, viel Freizeit und Experimentierfreiheit sind nicht mehr typische Merkmale des Jugend-, sondern auch des Erwachsenenalters. Ferner hat der Wandel der weiblichen Biographie dazu geführt, dass Schule und Beruf(-sausbildung) für Mädchen immer bedeutsamer geworden sind. Schließlich sind eine Ausweitung der Jugendzeit (zunehmende Dauer der Schul- und Berufsausbildung, Postadoleszenz) und eine große Variabilität phasentypischer Elemente (z.B. Zeitpunkt erster sexueller Kontakte, der finanziellen Unabhängigkeit, der ersten längerfristigen Partnerschaft) festzuhalten.

Familienerziehung

Da die Familie der wichtigste Lebenskontext von Kindern ist und auch noch im Leben von Jugendlichen und Erwachsenen eine große Rolle spielt, setzt eine zeitgemäße, wirkungsvolle Jugendhilfe die genaue Kenntnis der Lebensbedingungen und Schwierigkeiten verschiedener Familienformen voraus. So ist von Bedeutung, dass viele Kinder in Einkindfamilien aufwachsen. Sie sind häufig auf ihre Eltern fixiert, stellen hohe Ansprüche an ihre Zeit und fühlen sich oft einsam oder gelangweilt, wenn ihre Eltern nicht in der Nähe sind. "Einzelkinder wachsen ohne die Erfahrungen der Mehrkinderfamilie auf. Sie haben weitaus weniger Möglichkeiten, sich dem dauernden Zugriff der Erwachsenen zu entziehen, sich in der Altersgruppe zu entlasten, im Umgang mit Gleichaltrigen und Älteren kognitive und soziale Erfahrungen zu machen. Eltern mit nur einem Kind sind leichter in Gefahr, sich zu einseitig auf dieses Kind zu konzentrieren, es zu stark an sich zu binden, ihre Wünsche auf das Kind zu projizieren" (Süßmuth 1985, S. 98). So wird einerseits die Vermittlung sozialer Fertigkeiten in Kindertagesstätten, Schulen und Jugendarbeit immer wichtiger, sind andererseits Eltern von Einzelkindern auf geeignete Weise (z.B. Familienbildung, Medien) auf die Gefahren von Überbehütung und Verwöhnung hinzuweisen. Noch kaum erkannt ist die Notwendigkeit, Heranwachsende auch mit kleineren Kindern vertraut zu machen, da diese immer mehr aus ihrer Erfahrungswelt verschwinden und dadurch eine spätere Übernahme von Elternverantwortung zunehmend als risikoreich und überfordernd erlebt wird.

In den vergangenen Jahrzehnten verlief die Entwicklung von der "Elternbestimmtheit der Kinder" hin zur "Kindbezogenheit der Eltern" (Wurzbacher): Kinder werden zunehmend wie Gleichgestellte behandelt, in familiale Entscheidungsprozesse einbezogen und in die Lebenswelt ihrer Eltern eingeführt. Ihnen werden mehr Freiheiten und größere individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gewährt. Ihre Eltern kümmern sich mit großem Einsatz und wohl eher zu- als abnehmender Kompetenz um sie, erleben sich bewusst als Erzieher und wissen um die hohen Anforderungen, die heute an die Familienerziehung gestellt werden. Zugleich erfahren sie aber auch eine starke Relativierung ihres erzieherischen Einflusses, da sie mit professionellen Erziehern, den Gleichaltrigen und den "geheimen Miterziehern" (alte und neue Medien) konkurrieren. Eine gewisse Verunsicherung resultiert aus dem Bestreben, das Kind vor diffusen Gefährdungen (z.B. sexueller Missbrauch, Experimente mit Drogen, neue religiöse Bewegungen) zu schützen, sowie aus der Konfrontation mit widersprüchlichen pädagogischen Konzepten, Forschungsergebnissen und praktischen Ratschlägen. Zudem muss das Kind für zwei Welten erzogen werden: die innerfamiliale, in der Liebe, Vertrauen, Offenheit, Rücksichtnahme und Solidarität zählen, sowie die außerfamiliale, in der Wettbewerbsorientierung, Disziplin, Konsum, Selbstverwirklichungsstreben, individuelle Freiheit u.Ä. eine große Rolle spielen. Aus der skizzierten Situation resultieren das Bedürfnis nach Elternberatung und -bildung, der Wunsch nach Austausch mit anderen Eltern und die Notwendigkeit von Elternarbeit.

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte haben Kinder an Bedeutung für das psychische Wohlbefinden ihrer Eltern gewonnen: Da diese ihre Arbeitsexistenz häufig auf eine Weise erleben, die sie in der Familie nach Lebenssinn und der vermissten Erfüllung suchen lässt, benötigen sie das Kind, wollen sie sich in seiner Erziehung verwirklichen, stellen sie hohe emotionale Erwartungen an es und machen es zum Mittelpunkt ihres Lebens. So wird es oft überbehütet, verwöhnt oder überfordert. Wenn es aber von Zeit zu Zeit als Belastung oder als Hindernis bei der eigenen Selbstverwirklichung oder Freizeitgestaltung erlebt wird, kann es auch zur Ausbildung eines diskontinuierlichen Erziehungsstils kommen: Die Eltern schwanken zwischen den Extremen der Verzärtelung und hohen Aufmerksamkeit auf der einen sowie der plötzlichen Bestrafung und des Ignorierens auf der anderen Seite; die Kinder reagieren mit Verhaltensauffälligkeiten.

Problematisch können sich auch das Unausgefülltsein, die soziale Isolierung und Unzufriedenheit vieler nichterwerbstätiger Mütter sowie die negative Bewertung der Hausfrauentätigkeit durch die soziale Umwelt auswirken. Manche Mütter machen unbewusst das Kind für ihre unbefriedigende Situation verantwortlich, erleben es als Belastung oder Fessel und behandeln es dementsprechend. Andere klammern sich an es, isolieren es von der Umwelt und machen es zu einem Ersatzpartner. Oft versuchen sie auch, ein positives Selbstwertgefühl als "perfekte" Hausfrau und Mutter zu finden, und verwöhnen oder überfordern dementsprechend ihr Kind. Da Körperstrafen zunehmend abgelehnt werden, wollen viele Mütter durch "Liebeszufuhr" und "Liebesentzug" die Kinder zur Erfüllung der eigenen Verhaltenserwartungen motivieren. Dieses kann dazu führen, dass Kinder sich der Liebe ihrer Eltern nicht sicher sind. Wenn angemessenes Verhalten materiell belohnt wird, stellt sich oft auch "eine gefährliche Assoziationskette ein: Ich werde geliebt, wenn ich etwas dafür tue; Beweis dafür, dass ich geliebt werde, sind Geschenke; ... Waren werden so zum Liebesbeweis, Liebesbeweise sind Waren" (Dürr 1986, S. 10).

Sind Mütter erwerbstätig, so kann ihre andauernde Überlastung zu negativer Gestimmtheit, Spannungen und zwiespältigen Gefühlen gegenüber den Kindern führen. Oft haben sie zu wenig Zeit für ihre Kinder oder vernachlässigen sie sogar. Dieser Mangel an Zuwendung und familiärer Geborgenheit kann insbesondere bei Kleinkindern zu Verhaltensauffälligkeiten und neurotischen Dispositionen führen. So ist es nicht verwunderlich, dass von Teilen der Gesellschaft die Erwerbstätigkeit von Müttern recht negativ gesehen wird. Sowohl Erwachsene als auch Jugendliche sind überwiegend der Meinung, dass Kinder bis zum Eintritt in den Kindergarten von einem nichterwerbstätigen Elternteil versorgt werden sollten. Dennoch bleiben viele Mütter berufstätig, weil sie einen Verlust an beruflicher Qualifikation und an Aufstiegsmöglichkeiten fürchten, weil soziale Wertschätzung vor allem über den Beruf vermittelt wird oder weil ihre Familien ohne ein zweites Einkommen nicht auskommen können. Hier wird die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger und kompensatorisch wirkender Maßnahmen der Kinderbetreuung deutlich. Zugleich müsste die materielle Situation von jungen Familien mit nur einem Erwerbstätigen verbessert, ein positiveres Bild von nicht berufstätigen Müttern in der Öffentlichkeit verbreitet und das speziell auf diese Zielgruppe gerichtete Angebot der Jugendhilfe (z.B. Krabbelgruppen, Mütterzentren, Gesprächskreise) vergrößert werden.

In den letzten Jahrzehnten hat sich auch die Vater-Kind-Beziehung geändert. Insbesondere viele Väter von Kleinkindern möchten ein enges Verhältnis zum Kind haben und erzieherisch tätig werden. Vereinzelt konkurrieren dann beide Eltern um die Zuneigung ihrer Kinder. In vielen Familien findet sich aber auch noch eine traditionelle Arbeitsteilung. Zudem nehmen viele Väter eine Randposition in ihren Familien ein, da sie zeitaufwendige Hobbys und außerfamiliale Interessen haben oder beruflich überlastet sind. Manche "sind durch den Arbeitsprozess in einer Weise ermüdet und abgespannt, dass ihnen jede Energie und Lust zum Spielen oder zur Beschäftigung mit den Problemen des Kindes fehlt" (Seehausen 1989, S. 103). Da Väter einen großen Teil ihrer Macht in der Familie verloren haben, sind oft die Autoritätsverhältnisse unklar. In solchen Fällen oder beim Befolgen eines antiautoritären Erziehungsstils beherrschen häufig die Kinder ihre Eltern. In vielen Tätigkeitsfeldern der Jugendhilfe ist es deshalb wichtig, Vätern bei der Klarifizierung ihrer Rollen zu helfen und Familienstrukturen (Hierarchie) zu verändern.

Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre emanzipatorischen Bestrebungen haben auch zu einem Wandel der Mädchenrolle geführt. So haben Schule und Beruf in ihrem Leben an Bedeutung gewonnen, sind Mädchen selbständiger und selbstbewusster geworden, haben sie mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Aber noch immer spielt die geschlechtsspezifische Erziehung eine große Rolle: Mädchen werden mehr beaufsichtigt, stärker auf häusliche Aufgaben verpflichtet und mehr in die Hausarbeit eingebunden. Auch wird von ihnen mehr Einfühlungsvermögen, Anpassungsbereitschaft, Rücksichtnahme, Unterordnung usw. erwartet. Hieraus ergeben sich zum einen wichtige Aufgaben für Elternarbeit und Familienbildung (weiterer Abbau geschlechtsspezifischer Erziehungsziele). Zum anderen sollte insbesondere die Jugendarbeit Mädchen zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten und Entwicklungsanreize bieten. Ferner sollten Jungen in der Familie und im Jugendhilfebereich dazu geführt werden, Tätigkeiten wie Hausarbeit, Erziehung und Pflege für sich als Aufgaben zu erkennen und zu erlernen. Auf diese Weise kann die vor allem von Mädchen und Frauen geforderte gerechtere Aufteilung der Familienpflichten gefördert werden.

Viele Jugendliche haben ein eher schlechtes Verhältnis zu Vater und/oder Mutter. Die meisten Konflikte ranken sich um Schulleistungen, Mode, Frisur und Schminken, Kauflust, Rauchen, Mediennutzung, gegengeschlechtliche Freundschaften, Zeitpunkt des nächtlichen Nachhausekommens, Ordnung und Umgangsformen. Bei konflikthaften Beziehungen scheiden die Eltern als Gesprächspartner für Sorgen und Nöte eher aus; Jungen wenden sich dann eher an gegengeschlechtliche und Mädchen an gleichgeschlechtliche Freunde. Probleme können aber auch daraus resultieren, dass Jugendliche sich aufgrund eines sehr engen Verhältnisses zu den Eltern nur schwer ablösen können. Hier wird die Notwendigkeit von Erziehungs- und Jugendberatung deutlich. Eine altersgemäße Ablösung von Jugendlichen kann auch durch die offene und verbandliche Jugendarbeit gefördert werden.

Familienprobleme

Müssen sich Familien über längere Zeit hinweg mit großen Belastungen - z.B. Arbeitslosigkeit, Geburt eines behinderten Kindes, Versorgung eines pflegebedürftigen Angehörigen, Alkoholkrankheit oder Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds, langfristige Klinik- oder Gefängnisaufenthalte eines Elternteils, Gewalttätigkeit usw. - auseinander setzen, so hat dieses häufig negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen: "Einige der schwersten Risikofaktoren in der Umwelt, die mit erhöhten Raten von Auffälligkeiten bei Kindern einhergehen, sind Armut, Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minorität, elterliche Psychopathologie, physische oder andere Formen der Misshandlung, minderjährige Eltern, Frühgeburt und ein niedriges Geburtsgewicht, Ehescheidung und schwere Kinderkrankheiten" (Tuma 1989, S. 189). So sind bei mehr als der Hälfte der jedes Jahr geschiedenen Ehen minderjährige Kinder betroffen, leben rund 16% aller Kinder unter 18 Jahren in Einelternfamilien. Jedes 5. Kind unter 15 Jahren wächst in Deutschland in Armut auf. Rund 2 Millionen Kinder und Jugendliche haben aus dem Ausland stammende Eltern(-teile).

An dieser Stelle kann nicht auf die Folgen derartiger Umweltbedingungen für Kinder eingegangen werden. Bedenkt man jedoch, dass z.B. drei von vier Kindern, die außerhalb des Elternhauses untergebracht werden, aus Teilfamilien kommen, wird die Brisanz dieser Thematik deutlich. Die Jugendhilfe steht vor der Situation, das Wohl der unter diesen Verhältnissen lebenden und in ihrer Entwicklung gefährdeten Kinder sichern zu müssen - durch Maßnahmen wie Scheidungsberatung, Beratung bei der Ausübung von Personensorge und Umgangsrecht, sozialpädagogische Familienhilfe usw. Bei vielen der hier angesprochenen Belastungen kommen der Zusammenarbeit mit anderen psychosozialen und medizinischen Diensten (z.B. Sozialamt, psychosoziale Beratungsstelle, Ausländerberatung, Kinderschutzbund) und der Koordination von Jugendhilfe- und anderen Maßnahmen eine besondere Bedeutung zu.

In diesem Zusammenhang soll noch auf die besondere Situation ausländischer Kinder, Jugendlicher und Heranwachsender hingewiesen werden, deren prozentualer Anteil an ihren Altersgruppen zunimmt: "Die zukünftige Gesellschaft wird durch die bereits jetzt in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Familien und stetig weiter zuziehenden Aussiedler und Asylbewerber verstärkt den Charakter einer multikulturellen Gesellschaft erhalten" (Birtsch et al. 1989, S. 20). Die Jugendhilfe muss sich dieser gesellschaftlichen Herausforderung stellen, die Integration ausländischer Kinder und Jugendlicher fördern und Konzepte multikultureller Erziehung entwickeln. Bedenkt man, dass rund 19 % der ausländischen Schulabgänger keinen Schulabschluss an einer allgemeinbildenden Schule erreichten und 35,3 % kein Abschlusszeugnis an einer berufsbildenden Schule erhielten sowie viele von ihnen Schwierigkeiten beim Eintritt in die Arbeitswelt erlebten, wird die Relevanz der Jugendsozialarbeit deutlich.

Kindheit heute

Herumtollen auf unbebauten Grundstücken, Verfolgungsjagd durch den Wald, unbeobachtetes Spielen an Bächen und Flüssen, Mutproben in der Natur - dies ist immer seltener kindliche Realität: Dörfer werden zugebaut, Wege asphaltiert, freie Grundstücke baulich genutzt. Kinder dürfen aufgrund der Verkehrsgefährdung nicht auf der Straße spielen oder weiter entfernt wohnende Freunde besuchen. Aus Angst vor sexuellem Missbrauch oder Unfällen wird ihnen verboten, in Parks, Naherholungsgebieten oder Waldgebieten herumzustreunen. Der eingeschränkte Bewegungsraum nimmt Kindern und Jugendlichen viele Möglichkeiten, ungezwungen körperliche Fertigkeiten zu schulen, sich selbst zu erfahren und über die Körperbeherrschung Selbstsicherheit zu gewinnen. Auch wird die verplante und geordnete Umwelt - siehe z.B. viele Spielplätze und Parks - für Kinder immer ärmer an Anregungen und Herausforderungen. "Von der zunehmenden Verstädterung, der allgemeinen Reizüberflutung, der Einschränkung des Spiel- und Bewegungsraums gehen negative Wirkungen aus, sodass sich beim Durchschnittskind von heute bereits bei Schulantritt vielfach Störungen der Gesundheit wie Nervosität, Konzentrationsmangel, Bewegungsunruhe, Haltungsschwäche, Überernährung und psychosomatische Beeinträchtigungen finden lassen" (Hartung 1987, S. 16).

Reaktionen der Jugendhilfe auf die skizzierte Situation, aber auch auf die Zunahme von Einzelkindern und auf den durch die Geburtenentwicklung bedingten Rückgang der Zahl Gleichaltriger in der Nachbarschaft, sind der Ausbau von Kindertagesstätten, die Unterstützung selbstorganisierter Eltern-Kind-Gruppen, Angebote der Jugendarbeit (Erlebnis- und Freizeitpädagogik) sowie Maßnahmen der Kinder- und Jugenderholung. Die Folge ist, dass Kindheit sich fast nur noch in Räumen abspielt, die pädagogisch besetzt sind: "Wohl noch nie haben Kinder mit so viel Aufsicht und Pädagogik zurecht kommen müssen wie heute" (Krug 1989, S. 9). Die meisten Erwachsenen treten ihnen mit einer Unterweisungsabsicht gegenüber, behindern Freiwüchsigkeit und ersticken das Bedürfnis nach experimentellem Umgang mit der Wirklichkeit. Kinder und Jugendliche benötigen - zumindest im Jugendhilfebereich (Kindertageseinrichtungen, Jugendarbeit, Erholungsmaßnahmen usw.) - mehr Freiräume, in denen sie sich ungezwungen bewegen können, in denen sie herumtollen, ihre Kräfte messen und ihren Körper erfahren können.

Die Vielzahl der Einrichtungen und Angebote für Heranwachsende hat auch dazu geführt, dass die Altersgruppen entmischt und die Kinder aus den Lebensbereichen der Erwachsenen ausgegrenzt und in Sonderumwelten eingegliedert werden: "Charakteristisch für diese Sonderumwelten ist, dass sie von Erwachsenen organisiert sind, dass der Gestaltungsraum der Kinder also von vornherein mit den Intentionen der Erwachsenen interferiert. Insoweit es sich um organisierte Betreuungseinrichtungen handelt, haben zudem mehr oder weniger professionalisierte hauptamtliche Betreuungspersonen das Sagen" (Kaufmann 1990, S. 106). Kinder und Jugendliche wechseln fortwährend zwischen diesen Sonderumwelten, sodass ihr Leben durch Zeitpläne geprägt und der Tagesablauf oft zerstückelt ist. Manchmal treten Spannungen zwischen den verschiedenen Bezugspersonen der Kinder auf, werden widersprüchliche Erwartungen an diese gerichtet, besteht wenig Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Lebensräumen. So steht die Jugendhilfe vor der Herausforderung, mehr Realität in die von ihr gestalteten Sonderumwelten zu holen - beispielsweise bieten im Kindergartenbereich der Situationsansatz und die Möglichkeit, Eltern mit einem Teil der Gruppe an ihrem Arbeitsplatz zu besuchen, einen sinnvollen Weg. Zugleich wird deutlich, dass Kinder vor Überforderung geschützt werden müssen: Schon Kleinkinder werden oft vom Kindergarten zu Musikschule, Schwimmkurs, Ballettschule, Kinderbasteln usw. gehetzt. Lassen sich die Eltern nicht überzeugen, so sollten zumindest die betroffenen Fachkräfte miteinander Kontakt aufnehmen und sich hinsichtlich des Umgangs mit dem Kind abstimmen.

In Familien und Institutionen werden Kinder mit einem Überangebot an Spielsachen - die oft nur wenig Nutzungsmöglichkeiten zulassen - und durchorganisierten Beschäftigungsprogrammen konfrontiert. Im Gegensatz zu früher mangelt es an Selbsttätigkeit, fehlt das Fertigkeiten fördernde, produktive und damit auch befriedigende Herstellen von Gegenständen. "Wer mit Hingabe, Mühe und Sorgfalt selbst etwas gemacht und geschaffen hat, trägt zu diesen Sachen und Werken Sorge. Er überträgt dies fast automatisch auch auf nicht ihm persönlich Gehörendes, d.h. Vandalismus ist ihm fremd" (Dürr 1986, S. 87). Da Kinder und Jugendliche heute in erster Linie Spielsachen, Beschäftigungsprogramme und Freizeitangebote konsumieren, entwickeln sie eine andere Einstellung zu Objekten, aber auch zu sich selbst: Sie besitzen weniger Selbstvertrauen, da ihnen das Bewusstsein der Körperbeherrschung und die aus dem Produzieren resultierenden Erfolgserlebnisse fehlen. Auch eignen sie sich nicht mehr die Wirklichkeit durch Körpertätigkeit an, fällt der Übergang vom Spiel zur Arbeit schwerer. Schon früh entsteht eine Konsumhaltung, die durch Werbung und Medien (Weckung neuer Bedürfnisse) sowie die materielle Verwöhnung durch viele Eltern (oft aus einem schlechten Gewissen heraus) noch gefördert wird. Kinder und Jugendliche verursachen ihren Eltern hohe Kosten; häufig kommt es zu Konflikten um Geld. Die Jugendhilfe ist herausgefordert, Heranwachsende zum Hinterfragen ihrer Konsumhaltung zu führen und deren Folgen für Individuum und Umwelt zu verdeutlichen. Vor allem in Kindertagesstätten, Jugendarbeit, Heimerziehung, Jugendbildung und bei Erholungsmaßnahmen kommt es darauf an, die Selbsttätigkeit, das produktive und kreative Handeln zu fördern und Handfertigkeiten (z.B. Umgang mit Werkzeugen und verschiedenen Materialien) zu vermitteln.

Eigentätigkeit, soziale Erfahrungen, die Ausbildung kommunikativer Fertigkeiten und die Erforschung der Umwelt werden auch durch die intensive Mediennutzung behindert. Kinder und Jugendliche verbringen mehrere Stunden pro Tag vor dem Fernseher oder Computer. Viele sehen täglich oder mehrmals pro Woche Videofilme an, unter denen sich oft indizierte oder sogar beschlagnahmte Titel befinden. Es ist offensichtlich, dass derartige Filme das Weltbild von Kindern sowie ihre Haltung gegenüber Menschen und zu Gewalt prägen. Zudem sind die meisten in Videos oder Fernsehfilmen auftretenden Personen schlechte Vorbilder, von denen Kinder keine reifen Formen der Wirklichkeitsbewältigung, Bedürfnisbefriedigung und Konfliktlösung lernen. Das Gesehene wird nur selten kritisch bewertet und in Bezug zur eigenen Erfahrung gesetzt, sodass logisch-analytische Fähigkeiten nicht gefördert werden. Hier wird deutlich, dass der Jugendmedienschutz noch nicht alle die ihm gestellten Ziele erreicht hat. Eltern, Erzieher/innen, Sozialpädagog/innen und Lehrer/innen müssen auf die Notwendigkeit der Medienerziehung hingewiesen werden.

Schule und Gleichaltrigengruppe

Neben der Familie sind Schule bzw. Ausbildungsstätte und Gleichaltrigengruppe die wichtigsten Bezugsfelder für Minderjährige und Heranwachsende. So verbleiben diese immer länger in Bildungseinrichtungen - bei Hochschulstudium (und Promotion) bis über das dritte Lebensjahrzehnt hinaus. Dies bedeutet, dass viele von ihnen noch lange nach Erreichen der Volljährigkeit sowie nach der räumlichen und sozialen Ablösung finanziell von ihren Eltern abhängig sind. Da Bildung als wichtigstes Grundkapital für die Zukunft gilt, haben Schulnoten und -zeugnisse einen hohen Stellenwert in vielen Familien. Häufig führen überzogene und unrealistische Erwartungen der Eltern zu Leistungsdruck, Schulstress und Überforderung. Erbringt das Kind oder der Jugendliche nicht die gewünschten Leistungen, so wird sein Versagen bisweilen von den Eltern als eigenes Versagen erlebt (existentielle Bedrohung) oder auf andere Lebensbereiche des Minderjährigen generalisiert. Oft kommt es zur Ausbildung psychischer Symptome, wenn das Kind z.B. glaubt, dass es wegen seiner schlechten Leistungen nicht mehr von seinen Eltern geliebt wird.

Leistungsdruck, Stress und Schulangst können aber auch von Lehrer/innen verursacht werden, die beispielsweise ihre Schüler mit einer übergroßen Stofffülle und zu vielen theoretisch-intellektuellen Inhalten überfordern (oft lehrplanbedingt), ein starkes Konkurrenzverhalten fördern oder schlechte Schüler/innen bloßstellen. Die einseitige geistige Belastung, Schulstress und Ermüdung resultieren auch aus der Schulorganisation (bei den in westlichen Ländern vorherrschenden Ganztagsschulen können Lernfächer über den ganzen Tag verteilt werden), den zu kurzen Erholungszeiten und der zu geringen Stundenzahl für Schulsport, Werken, Handarbeiten und ähnliche Fächer. Belastend können auch die Anonymität zu großer Schulen, die Isolierung durch das Kurssystem sowie die langen Schulwege bzw. Schulbusfahrten wirken. Die noch immer übergroßen Klassen beeinträchtigen das psychische Wohlbefinden und erschweren eine adäquate Förderung von Spätentwicklern, Problemkindern, ausländischen Schüler/innen und solchen mit Teilleistungsschwächen. Die skizzierte Situation führt nicht nur zu Disziplinlosigkeit, Aggressivität, Entfremdung und ähnlichen Auffälligkeiten, sondern auch zu einer immer negativer werdenden Haltung zur Schule. Offensichtlich ist, dass Schulsozialarbeit von großer Wichtigkeit ist. Aber auch andere Angebote der Jugendhilfe (Hort, Jugendarbeit, Hausaufgabenbetreuung usw.) können kompensatorisch wirken, Problemschüler/innen und ihren Eltern helfen sowie für das Kindeswohl förderliche Wege der Einflussnahme auf das Bildungssystem suchen.

Manche Jugendliche erleben auch Probleme beim Übergang von der Schule zum Beruf. Dieses kann z.B. daran liegen, dass sie zu wenig auf die Arbeitswelt vorbereitet wurden, also unrealistische und überzogene Erwartungen haben oder sich keine Arbeitstugenden angeeignet haben. Vielen fehlt die Qualifikation und Motivation, um den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu entsprechen. Dies gilt vor allem für (ausländische) Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und Sonderschulabsolventen. Sie finden entweder keinen Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz oder reagieren auf die Überforderung vielfach mit Verhaltensauffälligkeiten, Delinquenz, psychosomatischen Beschwerden oder dem Konsum legaler und illegaler Drogen. Hier steht vor allem die Jugendsozialarbeit vor großen Herausforderungen.

Während Eltern als Bezugspersonen für Jugendliche immer weniger wichtig werden, spielen Gleichaltrige eine immer größere Rolle als Gesprächspartner und Orientierungspersonen. Informelle und im kommerzialisierten Kontext zusammentreffende Gruppen haben an Bedeutung gewonnen; von Jugendverbänden organisierte oder an Jugendhäuser und ähnliche Einrichtungen gebundene Gruppen spielen heute eine geringere Rolle als in den vorausgegangenen Jahrzehnten. Gleichaltrige dienen als Vertrauenspersonen und Freizeitpartner, leisten einen gewichtigen Beitrag zur kognitiven, sozialen und Persönlichkeitsentwicklung, zur Ablösung und Selbstdifferenzierung. Aufgrund der Akzeleration werden sie auch immer früher Sexualpartner. Kinder und Jugendliche, die von ihren Gleichaltrigen abgelehnt, verspottet oder ausgestoßen werden, denen unbefriedigende Rollen (z.B. als Sündenbock) zugewiesen werden, die sich aufgrund mangelnder sozialer Fertigkeiten nicht in eine Gruppe integrieren können oder die sexuelle Probleme haben, leiden unter ihrer Situation sehr und benötigen Unterstützung durch die Jugendhilfe. Manchmal muss Jugendlichen auch vermittelt werden, wie sie mit dem sozialen Druck durch Gleichaltrige am besten umgehen.

In den letzten Jahren wurde der Situation von Mädchen zunehmend mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Zwölf- bis fünfzehnjährige verbringen viel Zeit im Kreise ihrer Freundinnen, in dem ein intensiver verbaler und emotionaler Austausch stattfindet. Hier finden sie auch einen gewissen Freiraum. Ältere Mädchen werden immer mehr in gemischtgeschlechtliche Gruppen einbezogen. Sie müssen sich mit "Anmache" und Anzüglichkeiten auseinander setzen und entbehren wirklicher "Mädchenräume". Oft wird ihre Bewegungsfreiheit von ihren Eltern aus Angst vor sexuellen Übergriffen eingeschränkt; dieses gilt verstärkt für ausländische Mädchen. Auch müssen sie sich mit widersprüchlichen Erwartungen auseinander setzen: "Sie sollen gleichzeitig attraktiv und anständig sein, ihre Gefühle verausgaben und Zurückhaltung üben" (Funk 1985, S. 39). Haben Mädchen einen Freund, so verlieren ihre Freundinnen an Bedeutung. Oft passen sie sich diesem zu stark an, sodass ihre Selbstbehauptung und Individuation gefördert werden müssten.

Viele Mädchen leiden stärker unter Alltagsbelastungen als Jungen. Sie reagieren auf Stress, zu hohe Erwartungen der Eltern, mangelnde Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe, Hektik im Freizeitbereich und andere Probleme häufiger mit Krankheitssymptomen wie Kopfschmerzen, Nervosität, Schlaflosigkeit oder Magenbeschwerden, aber auch mit Gefühlszuständen wie Traurigkeit, Ängstlichkeit, Unzufriedenheit mit sich selbst oder dem Gefühl, unwichtig zu sein. Seltener als Jungen agieren Mädchen Anspannungen, Überforderung und Wut aus. Die Jugendarbeit steht vor der Aufgabe, Angebote zu entwickeln, durch die sie mehr Mädchen als bisher erreicht (diese sind in diesem Bereich unterrepräsentiert), die sich ausschließlich an die genannte Zielgruppe richten und die zum Abbau abgelehnter Aspekte der Geschlechtsrollenleitbilder beitragen. Zudem muss deren Persönlichkeitsentwicklung gefördert, müssen ihre Selbstwertgefühle gestärkt und ihre Probleme gemildert werden.

Jugendarbeit, Jugendbildung, Jugendberatung und andere Bereiche der Jugendhilfe sollten Jugendliche bei der Suche nach einem Lebensmodell helfen. Einerseits ist der Freiraum von Jugendlichen größer geworden, über den eigenen Lebensentwurf zu bestimmen, da sie eigenständiger geworden sind und mehr Selbstverantwortung übernommen haben. Andererseits hat die früher vorgegebene "Normalbiographie" (Schule - Berufsausbildung - bis zur Rente ausgeübter Beruf - frühzeitige Heirat und Familiengründung) an Verbindlichkeit verloren; es sind eine Pluralisierung von Lebensoptionen und eine abnehmende Planbarkeit des Lebens festzustellen. Vor allem solche Jugendliche und Heranwachsende benötigen Hilfe, die diese Situation als anomisch erleben, mit Orientierungslosigkeit reagieren und Schwierigkeiten bei der Identitätsfindung erleben. Hier muss verhindert werden, dass die Desorientierung und Sinnsuche zu Sektierertum, Okkultismus, New Age, Esoterik oder rechts- bzw. linksradikalen Gruppen führen, dass sie in Aggressivität, Rowdytum, Apathie, Aussteigertum oder Drogenmissbrauch ihren Ausdruck finden. Der Weg in derartig abweichende Karrieren wird oft durch Gleichaltrigengruppen bereitet.

Im Achten Jugendbericht heißt es: "Jugendliche finden auf ihre Fragen - persönliche Fragen nach sinnvoller Ausbildung und Arbeit, nach Liebe, Partnerschaft, Ehe und Familie, Fragen in Bezug auf gesellschaftliche Zukunft, nach Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, nach gerechter Verteilung der Arbeit für alle, nach Abrüstung und Frieden - oft keine oder unbefriedigende Antworten in tradierten Weltanschauungen und Werten. Sie erleben diese häufig als wenig glaubwürdig" (S. 108). Viele zweifeln am Sinn von technischem Fortschritt und Karriere-Denken, erleben sich durch die Umweltverschmutzung bedroht oder versuchen, dem Anpassungsdruck zu widerstehen. Eine gewisse Distanz zur Erwachsenengesellschaft zeigt sich in den jugendlichen Subkulturen mit ihren eigenen Normen, Kleidungsstilen, Verhaltenserwartungen usw. Viele Jugendliche folgen jedoch auch traditionellen Lebensmustern: Sie sind leistungsbereit und berufsorientiert (bei jungen Frauen hat die Arbeitsorientierung eher zu- als abgenommen), wollen heiraten und Kinder haben. Die meisten wollen vor der Ehe aber zunächst mit ihrem Partner zusammenleben und streben eine egalitärere Arbeitsteilung als die in ihren Herkunftsfamilien an.

Andere Jugendprobleme

Viele Menschen erleben Deutschland als ein kinderfeindliches Land. Als Indizien hierfür nennen sie z.B. das mangelnde Verständnis der Erwachsenen für kindliche Bedürfnisse, den aus gesteigerten Konsumansprüchen und Egoismus resultierenden Geburtenrückgang, die Wohnraumprobleme kinderreicher Familien, den Mangel an Freizeit- und sozialen Einrichtungen für Kinder oder die finanzielle Benachteiligung kinderreicher Familien. Autofahrer nähmen zu wenig Rücksicht auf Kinder, Kleinkinder würden im Gedränge oft übersehen und umgerannt, Kinderspielplätze seien zu dreckig und Kinder wären in vielen Gaststätten und Geschäften ungern gesehen. Hier wird deutlich, dass die Jugendhilfe auch ein Anwalt für Kinder und ihre Familien sein muss, deren Interessen gegenüber der Kommune, der Wirtschaft und der Politik vertreten sowie einen Beitrag zum Abbau von Kinderfeindlichkeit leisten sollte.

Als problematisch gilt auch generell das Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Erwachsene glauben, dass es Jugendlichen zu gut gehe, sie zu viel Freizeit hätten, verwöhnt, maßlos, undankbar, ungehorsam, egoistisch und falsch erzogen seien. Jugendliche kritisieren die Haltung der Erwachsenen zur Jugend, deren Lebensweise, Erziehungsverhalten und politischen Einstellungen. Als große Jugendprobleme gelten Alkohol- und Drogenmissbrauch, Leistungsdruck, Schwierigkeiten in der Schule oder der Ausbildung, Reizüberflutung, Einsamkeit, Langeweile, Arbeitslosigkeit u.Ä. Durch Öffentlichkeitsarbeit und andere Maßnahmen könnte die Jugendhilfe einen Beitrag dazu leisten, dass Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Generation abgebaut werden und mehr Verständnis für die andere Seite entwickelt wird. Sie muss sich aber auch den genannten Jugendproblemen stellen.

Schließlich ist weiterhin die Unterstützung verhaltensauffälliger und psychisch gestörter Minderjähriger und Heranwachsender von größter Wichtigkeit für die Jugendhilfe. Verschiedene epidemiologische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bei circa 19 % aller Kinder und Jugendlichen psychiatrische Symptome bzw. bei etwa 12 % kinder- und jugendpsychiatrische Störungen vorzufinden seien (Detzner und Schmidt 1988). Bei Jungen treten nachweisbar häufiger Aggressivität, Destruktivität, hyperkinetisches Verhalten, Autismus, nächtliches Einnässen und Suizide auf, bei Mädchen Anorexien und Selbstmordversuche. Generell gibt es etwa zwei- bis dreimal so viel Jungen (im Schulalter) mit psychiatrischen Auffälligkeiten als Mädchen. Manche Schwierigkeiten resultieren auch aus erlebter Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch,. Zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit den genannten Symptomen sowie für junge Drogenabhängige und Kriminelle steht der Jugendhilfe ein großes Arsenal von Maßnahmen (Beratungsangebote, soziale Gruppenarbeit, Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege, Heimunterbringung, intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung usw.) zur Verfügung.

Quelle

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des gleichnamigen Kapitels in dem Sammelband "Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Handbuch für die sozialpädagogische Anwendung des KJHG" (1995, S. 13-26), herausgegeben von Martin R. Textor. Mit freundl. Genehmigung durch den Beltz Verlag, Weinheim.

Literatur

Achter Jugendbericht. Drucksache 11/6576. Bonn: Deutscher Bundestag 1990

Birtsch, V., Borsche, S. et al.: Jugendhilfe zwischen Familie, Arbeit, Medien. Forum Jugendhilfe 1989, Nr. 4, S. 19-25

Detzner, M., Schmidt, M.H.: Epidemiologische Methoden. In: H. Remschmidt, M.H. Schmidt (Hg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie in Klinik und Praxis. Band 1: Grundprobleme, Pathogenese, Diagnostik, Therapie. Stuttgart, New York: Thieme 1988, S. 320-337

Dürr, A.M.: Die Stellung der Familie innerhalb der Erziehungszieldiskussion. Die Familie und ihre Verflechtung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Eine Analyse der erziehungsrelevanten Einflüsse auf die Familie und ihre Organisation. Unveröffentlichte Dissertation. Zürich: Universität Zürich 1986

Funk, H.: Mädchenalltag - Freiraum nach geleisteter Pflicht. In: Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Immer diese Jugend! Ein zeitgeschichtliches Mosaik. München: Kösel 1985, S. 38-46

Hartung, K.: Aufgaben der Sozialpädiatrie. In: R. Lempp, H. Schiefele (Hg.): Ärzte sehen die Schule. Untersuchungen und Befunde aus psychiatrischer und pädagogisch-psychologischer Sicht. Weinheim, Basel: Beltz 1987, S. 15-25

Kaufmann, F.-X.: Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. München: Beck 1990

Krug, M.: Verändertes Kinderleben, veränderte Familien - welche Antworten können Einrichtungen für Kinder in Zukunft darauf geben? Rundbrief für Evangelische Kindertagesstätten 1989, Nr. 2, S. 4-15

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