Die Hilfeleistungsgesellschaft - eine Antwort auf Bevölkerungsalterung und Wohlstandswende

Martin R. Textor

 

Das Jahr 2010 brachte viele schlechte Nachrichten, deren Konsequenzen von den Politiker/innen verheimlicht werden. So werden wir schon in wenigen Jahren von einer Wohlstandswende überrascht werden, die bei einem anderen Verhalten der Entscheidungsträger von heute weniger stark ausfallen würde. Diese Wohlstandswende wird so rasch kommen und so einschneidend sein, dass nur noch die Bürger/innen selbst durch ihr persönliches Engagement in einer "Hilfeleistungsgesellschaft" die Auswirkungen mildern können.

Die in meinen Augen schlimmsten Nachrichten waren, dass im Jahr 2009 die durchschnittliche Kinderzahl je Frau auf 1,36 sank (Pressemitteilung Nr. 414 des Statistischen Bundesamtes vom 12.11.2010) und 13.000 Personen mehr aus Deutschland auswanderten als zuzogen (Pressemitteilung Nr. 185 des Statistischen Bundesamtes vom 26.05.2010). Diese Werte liegen unter den am häufigsten zitierten Szenarien der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (1), die von einer Geburtenhäufigkeit von 1,4 Kindern je Frau und einer Zuwanderung von 100.000 bzw. 200.000 Menschen pro Jahr (ab 2014 bzw. 2020) ausgehen. Nur die Variante WO AQ wurde mit einem Wanderungssaldo von 0 berechnet. Danach würde sich in den kommenden 50 Jahren das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen wie in Tabelle 1 aufgezeigt verändern.

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung (Geburtenhäufigkeit: 1,4 Kinder je Frau, Lebenserwartung: 85,0 Jahre für Männer, 89,2 Jahre für Frauen, Wanderungssaldo: 0)
Stand am 31.12. des Jahres: 2008 2020 2030 2040 2050 2060
Bevölkerungsstand 1000 82.002 78.919 75.050 70.171 64.365 58.175
  2008 = 100 100 96,2 91,5 85,6 78,5 70,9
unter 20 Jahre 1000 15.619 13.461 12.382 10.929 9.660 8.817
  % 19,0 17,1 16,5 15,6 15,0 15,2
20 bis unter 65 Jahre 1000 49.655 46.820 40.475 35.769 32.278 28.548
  % 60,6 59,3 53,9 51,0 50,1 49,1
65 Jahre und älter 1000 16.729 18.639 22.193 23.473 22.426 20.810
  % 20,4 23,6 29,6 33,5 34,8 35,8
Auf 100 20- bis unter 65-Jährige kommen:
unter 20-Jährige (Jugendquotient) 31,5 28,8 30,6 30,6 29,9 30,9
65-Jährige und Ältere (Altenquotient) 33,7 39,8 54,8 65,6 69,5 72,9
zusammen (Gesamtquotient) 65,1 68,6 85,4 96,2 99,4 103,8

Nach dieser Variante würde die Bevölkerung Deutschlands von 82,0 Mio. im Jahr 2008 auf 78,9 Mio. im Jahr 2020, 70,2 Mio. im Jahr 2040 und 58,2 Mio. im Jahr 2060 zurückgehen. Der Prozentsatz von unter 20-jährigen Menschen würde von 19,0% im Jahr 2008 auf 15,0% im Jahr 2050 fallen und dann wieder leicht auf 15,2% im Jahr 2060 ansteigen. Hingegen wird der Anteil von Menschen im Alter von 65 Jahren und älter kontinuierlich zunehmen: von 20,4% (2008) auf 35,8% (2060).

Die ganze Problematik dieser Entwicklung wird erst deutlich, wenn man die Jugend- und Altenquotienten betrachtet: Im Jahr 2008 kamen auf 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren 31,5 jüngere und 33,7 ältere Menschen. Während sich die Zahl jüngerer Menschen kaum verändert, steigt der Altenquotient rasant an: auf 39,8 (2020), 54,8 (2030), 65,6 (2040), 69,5 (2050) und schließlich auf 72,9 (2060). Während 2008 drei Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren für einen älteren Menschen aufkommen mussten (insbesondere über Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge, aber auch über verhältnismäßig höhere Krankenversicherungsbeiträge und einen Anteil der von ihnen gezahlten Steuern), werden 2030 zwei Menschen der mittleren Altersgruppe schon mehr als eine ältere Person unterstützen müssen; 2060 werden schließlich vier Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren fast drei ältere Menschen versorgen müssen. Dem Gesamtquotienten zufolge, werden ab dem Jahr 2050 auf eine Person der mittleren Generation eine jüngere und eine ältere kommen.

Am 1. Juli 2009 betrug laut Rentenversicherungsbericht 2010 der Bundesregierung (2) der durchschnittliche Zahlbetrag von Renten wegen Alters und von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an 19,0 Mio. Rentner/innen 739,63 Euro pro Monat bzw. 8.876 Euro pro Jahr (3). Die Beitragseinnahmen, die 2009 bei 181,6 Mrd. Euro lagen, wurden von 52,2 Mio. Versicherten aufgebracht, die somit pro Person ca. 3.480 Euro pro Jahr in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlten. Diese Einnahmen reichten aber nicht aus, um alle Ausgaben zu bestreiten. So musste der Bund 63,4 Mrd. Euro an Zuschüssen leisten.

Während heute drei Versicherte, die gemeinsam 10.440 Euro an Rentenversicherungsbeiträgen zahlen, nicht ausreichen, um einem Rentner eine Rente von 8.876 Euro im Jahr zu zahlen (die Einnahmen der Rentenversicherung werden ja nicht nur für Renten wegen Alters und Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, sondern auch für Renten wegen Todes, für die Krankenversicherung der Rentner, Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit sowie für Verwaltungskosten benötigt), wie sollen dann zwei Versicherte im Jahr 2030 einen Rentner finanzieren (4) - oder vier Versicherte drei Rentner ab dem Jahr 2050?

Unvorstellbar ist einerseits, dass die Rentenversicherungsbeiträge nennenswert gesteigert werden (da sie schon jetzt mit 19,9% sehr hoch sind). Genauso unwahrscheinlich ist andererseits, dass die Zuschüsse des Bundes von derzeit 63,4 Mrd. Euro stark erhöht werden: Wenn die Zahl der Menschen im Alter von 20 bis unter 65 Jahre von 49,7 Mio. im Jahr 2008 auf 28,6 Mio. im Jahr 2060 zurückgeht, wird auch die Zahl der Erwerbstätigen bzw. (Einkommens-/Lohn-) Steuerzahler sinken. Es wird also ein im Vergleich zu heute verhältnismäßig geringeres Steueraufkommen zu verteilen sein.

Selbst wenn Menschen erst nach ihrem 67. Lebensjahr eine Rente beziehen dürfen, bleibt das Verhältnis zwischen den 20- bis unter 67-Jährigen und den älteren Menschen problematisch, wie Tabelle 2 verdeutlicht. Spätestens ab 2040 müssten zwei Personen im Alter von 20 bis unter 67 Jahren für einen Rentner aufkommen.

Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung (Geburtenhäufigkeit: 1,4 Kinder je Frau, Lebenserwartung: 85,0 Jahre für Männer, 89,2 Jahre für Frauen, Wanderungssaldo: 0)
Stand am 31.12. des Jahres: 2008 2020 2030 2040 2050 2060
Bevölkerungsstand 1000 82.002 79.914 77.350 73.829 69.412 64.651
  2008 = 100 100 97,5 94,3 90,0 84,6 78,8
unter 20 Jahre 1000 15.619 13.624 12.927 11.791 10,701 10.085
  % 19,0 17,0 16,7 16,0 15,4 15,6
20 bis unter 67 Jahre 1000 51.477 49.723 44.771 40.025 37.562 34.228
  % 62,8 62,2 57,9 54,2 54,1 52,9
67 Jahre und älter 1000 14.906 16.567 19.652 22.013 21.149 20.338
  % 18,2 20,7 25,4 29,8 30,5 31,5
Auf 100 20- bis unter 67-Jährige kommen:
unter 20-Jährige (Jugendquotient) 30,3 27,4 28,9 29,5 28,5 29,5
67-Jährige und Ältere (Altenquotient) 29,0 33,3 43,9 55,0 56,3 59,4
zusammen (Gesamtquotient) 59,3 60,7 72,8 84,5 84,8 88,9

Zu problematisieren ist ferner, dass mit zunehmender Alterung der Gesellschaft nicht nur die Rentenversicherungs-, sondern auch die Kranken- und Pflegeversicherungsausgaben rasant ansteigen werden (s.u.). Auch hier ist abzusehen, dass die Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung nur begrenzt erhöht werden können und dass Zuschüsse aus dem Steueraufkommen eher unwahrscheinlich sind, da dieses aufgrund des Bevölkerungsrückgangs und der abnehmenden Zahl Erwerbstätiger schrumpfen dürfte.

In den letzten 10, 15 Jahren - einer Zeit des Wirtschaftswachstums und einer zunehmenden Zahl von Erwerbstätigen - haben Bund und Länder (begrenzt auch die Kommunen) immer mehr Schulden gemacht, um neue Sozialleistungen oder andere "Wohltaten" für die Bevölkerung finanzieren zu können (anstatt die "Gunst der Stunde" für einen ausgeglichenen Haushalt oder gar für Rücklagen zu nutzen). Die Bankenkrise und die darauf folgende Rezession haben den Schuldenberg nochmals erhöht.

In den Jahren nach 2020 - einer Zeit steigender Sozialausgaben und einer abnehmenden Zahl von Erwerbstätigen - wird der Staat kaum noch neue Schulden machen können, obwohl es dann sinnvoll wäre: Zum einen werden Erwerbstätige aufgrund gestiegener Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen und Steuern kaum noch sparen können, werden ältere Menschen aufgrund geringer Renten ihr Vermögen aufbrauchen müssen - sie werden dem Staat also weniger Geld leihen können. Zum anderen werden die Bürger/innen und insbesondere die institutionellen Anleger in absehbarer Zeit davon ausgehen, dass die Bundesrepublik die derzeitigen 1,7 Billionen Euro Staatsschulden - laut Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler vom 15.12.2010 sind dies 20.935 Euro pro Kopf (5) - wohl nie zurückzahlen kann, da es bei einer schrumpfenden Bevölkerung immer weniger Steuerzahler geben wird und da bei einer stark alternden Gesellschaft immer mehr Haushaltslöcher zunächst "gestopft" werden müssen.

Selbst wenn noch Zinsen gezahlt werden können, wird hingegen eine Schuldentilgung kaum möglich sein: "Würden ab sofort keine Schulden mehr aufgenommen und würde die öffentliche Hand gesetzlich verpflichtet, neben allen anderen Ausgaben für Personal, Investitionen, Sozialleistungen, Zinsen etc. jeden Monat auch eine Milliarde Euro an Schulden zu tilgen, so würde dieser Prozess knapp 150 Jahre lang andauern müssen, um den Schuldenberg vollständig abzutragen" (6).

Zudem ist offen, bis zu welcher Höhe die Staatsschulden in den kommenden Jahren noch steigen werden. Die 2009 im Grundgesetz verankerte "Schuldenbremse" gilt für den Bund erst ab 2016 und für die Länder ab 2020; zudem lässt sie eine geringe Neuverschuldung von 0,35% des nominalen Bruttoinlandprodukts und Ausnahmen zu (z.B. im Fall von Konjunkturkrisen). Ferner ist nicht abzusehen, in welchem Ausmaß die 2010 beschlossenen Rettungsfonds für Länder wie Irland, Spanien, Portugal und/oder Italien in Anspruch genommen werden. Im schlimmsten Fall haftet der deutsche Staat mit 182 Milliarden Euro (7).

Können keine neuen Schulden mehr gemacht werden und müssen alte getilgt werden, weil sie fällig geworden sind, werden Bund, Länder und Kommunen in starke Sparzwänge geraten. Obwohl sie die Sozialausgaben eigentlich aufgrund der Alterung der Bevölkerung steigern sollten, werden sie diese unter Umständen sogar senken müssen. Auf jeden Fall werden die Staatsausgaben auf anderen Gebieten sinken - für Bildung und Kultur, für Wissenschaft und Forschung, für Städtebau und Verkehr, für Verteidigung und Umweltschutz. Sollte es erneut Finanz- oder Wirtschaftskrisen geben, wird der Staat nicht wie 2008/2009 Mittel für die Rettung von Banken oder die Stimulierung der Konjunktur zur Verfügung stellen können: Deren Folgen werden voll auf die Gesellschaft durchschlagen.

Vor der Wohlstandswende

So wird sich eine Wohlstandswende nicht vermeiden lassen: Erwerbstätige werden mehr Steuern und Sozialabgaben zahlen müssen. Viele bisher stark subventionierte Leistungen wie z.B. Kindertagesbetreuung, Hochschulbildung, Theater und Konzerte werden teurer werden. Senioren werden viel niedrigere Renten als heute beziehen - vielleicht auch nur noch eine "Einheitsrente", die vermutlich ein wenig höher als der durchschnittliche Rentenversicherungsbeitrag eines Versicherten sein wird (insbesondere wenn der Gesamtquotient gegen 80 tendiert oder gar die 100 überschreitet). Immer mehr Leistungen bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit werden von den Patient/innen bzw. Pflegebedürftigen "aus der eigenen Tasche" zu zahlen sein.

Zudem wird es Senior/innen immer schwerer fallen, Vermögen zu veräußern, um ihr Renteneinkommen "aufzubessern" oder die von ihnen zu tragenden Krankheits- bzw. Pflegekosten zu erstatten: Einerseits werden immer mehr ältere Personen Wohneigentum, Wertpapiere oder Edelmetalle verkaufen wollen, andererseits wird aber die Zahl potenzieller und vor allem zahlungskräftiger Käufer bei einer schrumpfenden und ärmer werdenden Bevölkerung sinken.

Hinzu kommt, dass in den nächsten Jahren die Lebenshaltungskosten steigen werden. Da auf allen Erdteilen mit Ausnahme von Europa die Bevölkerung stark zunehmen wird, ist mit einer weltweiten Ernährungskrise zu rechnen - also mit viel höheren Lebensmittelpreisen. Da immer mehr Vorkommen von fossilen Energieträgern und anderen Rohstoffen zu Ende gehen werden, ist zudem mit stark steigenden Preisen für Benzin, Diesel, Strom und die meisten Waren zu rechnen.

Die Bevölkerung wird also ärmer werden. Inwieweit diese Entwicklung ohne einen "Generationenkrieg" - auf der einen Seite die immer mehr Steuern und Sozialabgaben zahlen sollenden Erwerbstätigen, auf der anderen Seite die von Kürzungen ihrer Renten bedrohten Senior/innen - vonstattengehen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Soziale Unruhen könnten auch von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ausgehen, die ebenfalls von Leistungskürzungen betroffen sein werden. Aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten werden ärmere Menschen auf einem Niveau "vegetieren", das weit unter dem heutigen Sozialhilfelevel liegen wird.

Vor der Pflegekrise

Sollten in den kommenden 20 Jahren genauso viele Menschen einer Altersgruppe in Krankenhäusern behandelt werden wie heute, würde sich laut einer Studie der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder die Zahl der Krankenhausfälle - bei sinkender Gesamtbevölkerung - bis zum Jahr 2030 von derzeit ca. 17,9 Mio. um 1,4 Mio. Fälle auf 19,3 Mio. erhöhen (2020: ca. 18,8 Mio. Fälle). Sollte die Behandlungsquote aufgrund eines sich verbessernden Gesundheitszustandes der Bevölkerung sinken, gäbe es hingegen im Jahr 2030 nur 18,3 Mio. Krankenhausfälle (2020: ca. 18,3 Mio.). Analog lässt sich auch die Zahl der Pflegebedürftigen berechnen: Bleiben die Pflegequoten je Altersgruppe konstant, dürfte ihre Zahl von 2,25 Mio. im Jahr 2007 auf 2,90 Mio. im Jahr 2020 und 3,37 Mio. im Jahr 2030 steigen. Würden die Pflegequoten jedoch sinken, werden für das Jahr 2020 etwa 2,72 Mio. und für 2030 ca. 3,0 Mio. Pflegebedürftige erwartet. "Der Anteil der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung liegt im Szenario 'sinkende Pflegequote' entsprechend mit 3,4% im Jahr 2020 und 3,9% im Jahr 2030 etwas niedriger als im Status-Quo-Szenario: Dort sind es 3,6% im Jahr 2020 und 4,4% im Jahr 2030. Im Status-Quo-Szenario wären im Jahr 2050 dann 6,5% der Gesamtbevölkerung pflegebedürftig, im Szenario 'sinkende Pflegequote' 5,4%" (8).

Unabhängig davon, welches Szenario eintrifft, ist diese Entwicklung nicht nur mit steigenden Ausgaben von Krankenkassen und Pflegeversicherung sowie mit wachsenden Investitionen in den Bau von Krankenhäusern und Pflegeheimen verbunden, sondern auch mit Engpässen beim Pflegepersonal: Nach Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes und des Bundesinstituts für Berufsbildung werden schon im Jahr 2025 rund 152.000 Beschäftigte (bzw. 112.000 Vollzeitkräfte) in Pflegeberufen fehlen (Pressemitteilung Nr.449 des Statistischen Bundesamtes vom 06.12.2010). Dieser Personalmangel dürfte in den darauf folgenden Jahren eher noch größer werden, da die Zahl der Schulabgänger immer kleiner wird und diese in anderen Berufsfeldern attraktivere Löhne und Arbeitsbedingungen vorfinden werden.

Die Hilfeleistungsgesellschaft

Wie könnte das Problem fehlender Pflegekräfte und steigender Ausgaben der Pflegeversicherung zumindest ein wenig gemildert werden? Eine Lösung könnte sein, dass rüstige Senior/innen behinderte und pflegebedürftige Menschen unterstützen und als Gegenleistung dann ihrerseits Hilfe durch andere Menschen erfahren, falls sie in fortgeschrittenem Alter in eine ähnliche Situation kommen sollten. Um zu verhindern, dass hier die Gutmütigkeit einzelner Senior/innen ausgenützt wird, sollte dies nicht durch ehrenamtliches Engagement, sondern auf Grundlage einer "Pflegebörse" erfolgen: Für einzelne Dienstleistungen wie das Einkaufen für Senior/innen, die nicht mehr das Haus verlassen können, das Zubereiten von Mahlzeiten, das Besorgen der Wäsche, die Reinigung der Wohnung, das Abholen und Begleiten zu Arztterminen usw. wird ein jeweils unterschiedlicher Wert gutgeschrieben. Der im Verlauf der Zeit erworbene "Kredit" kann dann später abgerufen werden, wenn die jeweilige Person selbst behindert oder pflegebedürftig werden sollte.

In Deutschland gibt es Pflegebörsen in der Form von Seniorengenossenschaften - die erste wurde 1991 in Riedlingen (Baden-Württemberg) gegründet. Hier erhält man für eine Stunde Mitarbeit einen bestimmten (immer gleichen) Betrag gutgeschrieben. Den Gesamtbetrag kann man sich jederzeit auszahlen lassen. Man kann ihn aber auch bei der Genossenschaft ansparen und später bei Bedarf dem Betrag entsprechende Leistungen abrufen. So können sich nicht nur besser Verdienende im Pflegefall Hilfen "einkaufen".

In Zukunft sollten alle rüstigen Senior/innen gesetzlich verpflichtet werden, bei Pflegebörsen bzw. Seniorengenossenschaften mitzuarbeiten. Sie müssten dann innerhalb eines festgelegten Zeitraums einen Kredit von einer bestimmten Mindesthöhe erwerben. So könnten die zu erwartenden hohen Pflegekosten reduziert werden, da viele Leistungen auf Gegenseitigkeit - und somit letztlich unbezahlt - erfolgen würden.

Eine Pflegebörse könnte auch jüngere Menschen einbeziehen: Beispielsweise praktiziert der japanische Sawayaka Wohlfahrtsverband seit 1995 ein System, in dem Erwachsene, die ihre eigenen pflegebedürftigen Eltern wegen eines weit entfernten Wohnortes nicht versorgen können, andere hilfebedürftige Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung unterstützen. Für die erworbenen, je nach Dienstleistung unterschiedlichen "Pflegeeinheiten" helfen dann andere Menschen den Eltern dieser Personen an deren Wohnort. Die Pflegeeinheiten können aber auch für später aufgespart werden. Inzwischen existiert dieses System in 372 japanischen Städten - und eine Befragung der Pflegebedürftigen ergab, dass sie sich besser versorgt fühlen als durch professionelle Pflegedienste (9).

Eine solche Börse könnte ausgeweitet werden, indem andere soziale Dienstleistungen einbezogen werden: So könnten Menschen beispielsweise auch durch Babysitting, Schülernachmittagsbetreuung, Nachhilfeunterricht, die Mitarbeit in Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen und Pflegeheimen, soziale Betätigungen bei Wohlfahrtsverbänden und Kirchengemeinden, Mithilfe bei Rettungsdiensten usw. einen virtuellen Kredit erwerben, den sie dann bei einem eigenen Hilfebedarf nutzen können.

Je mehr Menschen in einer Gemeinde oder in einem Stadtteil sich sozial engagieren, umso schneller wird der "Sog" weitere Bürger/innen aktivieren. So könnte eine "Hilfeleistungsgesellschaft" entstehen, in der die Sozialausgaben trotz einer zunehmenden Zahl behinderter und pflegebedürftiger Menschen sowie einer abnehmenden Zahl von Berufstätigen im Sozialbereich gedeckelt werden könnten. Die Professionellen müssten dann nur noch die Aufgaben erledigen, für die eine besondere Ausbildung erforderlich ist, und die Helfer anlernen, begleiten und beraten. Die Organisation von deren Einsatz und viele andere bürokratische Tätigkeiten könnten wiederum Ehrenamtliche übernehmen.

Von der Hilfeleistungsgesellschaft zur Tauschwirtschaft

In vielen Ländern sind in den letzten Jahren "Tauschbörsen" entstanden, die nicht nur soziale Dienstleistungen, sondern auch professionelle Dienste wie Zahnbehandlungen, Fußpflege, Programmieren, Design usw. vermitteln. Ferner werden zunehmend Waren getauscht, z.B. Feldfrüchte und Obst (in der Form wöchentlicher Lieferungen) gegen Mithilfe auf dem Acker oder bei der Ernte.

Inzwischen gibt es mehr als 180 Börsen - 55 in Australien, 26 in Südafrika, 33 in den USA - mit einer eigenen lokalen Währung, die z.B. als "Life Dollars", "BerkShares" oder "Time Dollars" bezeichnet wird (9). Im Gegensatz zu einem virtuellen Kredit kann mit diesem Geld in vielen Geschäften, Betrieben und Gaststätten innerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs gezahlt werden. So werden mehr Waren vor Ort gekauft, entfallen z.B. die Transportkosten für im Internet bestellte Produkte. Besonders positiv wirkt sich dies bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus: Werden Gemüse, Obst und Fleisch direkt von den örtlichen Landwirten bezogen, sind die Waren preiswerter, weil der Zwischen- und Einzelhandel ausgeschaltet wird. Zudem verderben weniger Lebensmittel, da sie nicht zwischengelagert und über längere Strecken transportiert werden müssen.

Viele dieser Tauschbörsen sind als Antwort auf Finanzkrise, Rezession und Umweltverschmutzung entstanden. Sie wurden von Menschen gegründet, die arbeitslos geworden sind, Einkommenseinbußen erfahren haben oder durch den Kauf lokaler Produkte den CO2-Ausstoß reduzieren wollen. Dank der Tauschbörsen, die sicherlich bei der sich abzeichnenden Wohlstandswende rasant an Bedeutung gewinnen werden, können nun Waren und Dienstleistungen preiswerter oder für eine Gegenleistung (auch gegenüber Dritten) erworben werden. Unternehmen, Großhändler, Institutionen und Banken, deren Produkte und Dienste teurer sind, werden damit an Bedeutung verlieren. Dasselbe wird für Handelsketten gelten, deren örtlichen Geschäfte lokale Währungen (oder gar einen virtuellen Kredit) nicht akzeptieren werden. So werden kleine Geschäfte und Firmen gestärkt, werden die Ressourcen vor Ort - die Arbeitskraft und die Kompetenzen der Menschen, die lokal erzeugten Lebensmittel und Produkte - besser genutzt, bleibt mehr Geld in der Gemeinde (10).

Schlusswort

Hilfeleistungsgesellschaft und Tauschwirtschaft sind nicht nur Antworten auf die zunehmende Zahl behinderter und pflegebedürftiger Menschen, das auf mittlere Sicht zurückgehende Beitragsaufkommen bei Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen sowie die Wohlstandswende, sondern tragen auch zur sozialen Vernetzung bei: Die Menschen vor Ort lernen einander besser kennen und sind immer motivierter, einander zu helfen und zu unterstützen. Sie erkennen, dass sie ohne viele der Dinge auskommen können, für die sie früher schwer gearbeitet haben. So verlieren Geld, Besitz und Konsum an Bedeutung. An deren Stelle treten zwischenmenschliche Beziehungen, emotionale Nähe, Solidarität, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit - und dies wird zu mehr positiven Rückmeldungen, zu mehr Befriedigung, Freude und Glücksempfinden führen...

Anmerkungen

(1) Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060. Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Excel-Datei. Wiesbaden: Selbstverlag 2009

(2) http://www.bmas.de/portal/49192/property=pdf/2010__11__17__rentenversiche rungsbericht__2010.pdf, abgerufen am 15.12.2010

(3) Die wenigsten Rentner erhalten nur die zuvor erwähnte Rente von durchschnittlich 739,63 Euro pro Monat. Hinzu kommen oft noch Witwen-/Witwerrenten, Renten aus weiteren Alterssicherungssystemen und andere Einnahmen. Laut der repräsentativen Studie "Alterssicherung in Deutschland" verfügten "bei den Rentnerhaushalten mit einer Bezugsperson ab 65 Jahren im Jahr 2007 in den alten Ländern Ehepaare über ein monatliches Nettoeinkommen von 2 327 Euro, alleinstehende Männer von 1 513 Euro und alleinstehende Frauen von 1 198 Euro je Monat. In den neuen Ländern verfügten im Jahr 2007 Ehepaare über ein Nettoeinkommen von durchschnittlich 1 933 Euro, alleinstehende Männer über ein Nettoeinkommen von 1 182 Euro und alleinstehende Frauen über ein Nettoeinkommen von 1 151 Euro je Monat" (Rentenversicherungsbericht 2010 der Bundesregierung, S. 23).

(4) Hier wurde die Zahl der Menschen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren - 2008: 49,7 Mio. - gleichgesetzt mit der Zahl der Rentenversicherten - 2009: 52,2 Mio. Das ist natürlich nicht korrekt, dürfte aber der Realität entsprechen. Zugleich wird deutlich, dass der Begriff "Rentenversicherter" mehr Menschen als alle Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahren beinhaltet: Er umfasst nicht nur Erwerbstätige, die Rentenversicherungsbeiträge entrichten, sondern z.B. auch "Anrechnungszeitversicherte" wie Schüler/innen, Student/innen und Arbeitslose sowie "Latent Versicherte", die irgendwann einen Beitrag entrichtet oder eine Anrechnungszeit erworben haben.

(5) http://www.steuerzahler.de

(6) Website des Bundes der Steuerzahler Deutschlands: Staatsausgaben > Verschuldung (http://www.steuerzahler.de/Verschuldung/1233b477/index.html), abgerufen am 15.12.2010

(7) Mark Schieritz: Müssen wir ihn wirklich retten? Fünf Fragen und Antworten zur Zukunft des Euro. DIE ZEIT vom 09.12.2010

(8) Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.): Demografischer Wandel in Deutschland. Heft 2: Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern. Ausgabe 2010. Wiesbaden: Selbstverlag 2010, S. 30

(9) Douglas Rushkoff: Life Dollars: Finding Currency in Community. The Futurist 2010, 44 (5), S. 21-23

(10) Natürlich bleibt die Landeswährung - sie wird für Waren und Dienstleistungen benutzt, die nicht mit dem lokalen "Geld" bezahlt werden können.