Psychotherapie zwischen Wissenschaft und Alltagstheorie

Martin R. Textor

 

Überblickt man die gegenwärtige Situation der Psychotherapie, so fällt als erstes die Vielzahl miteinander konkurrierender Therapieansätze auf. So werden z.B. in Herinks Sammelband (1980) schon mehr als 250 verschiedene Ansätze vorgestellt. Zwischen vielen dieser Schulen tobt ein heftiger Kampf, verbunden mit einer dogmatischen Verabsolutierung der eigenen und der vorurteilsbehafteten Ablehnung nahezu aller anderen Theorien. Es ist offensichtlich, dass keiner dieser Ansätze auf einem ganzheitlichen Bild vom Menschen fundiert ist, den gesamten sozialen Kontext berücksichtigt, alle möglichen Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen konzeptuell erfasst und für nahezu jeden einzigartigen Fall die bestgeeignetsten Strategien und Techniken besitzt.

So steht der vermeintliche Theorien- und Schulenreichtum der Psychotherapie wohl für die Einseitigkeit, übergroße Vereinfachung und fehlende Reichweite nahezu aller dieser Ansätze. Es werden immer nur einzelne Bereiche der Psyche (Unbewusstes, Erleben, Verhalten, Kognitionen, Einstellungen usw.) und des sozialen Kontextes (Familie, Peergroup, Schule/Arbeitsplatz usw.) ausgewählt und zur Grundlage der jeweiligen Theorie gemacht - andere Bereiche werden ausgeblendet oder vernachlässigt. Es findet also eine starke Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit auf schmale Segmente und wenige Bedingungsfaktoren statt.

Diese Konzentration auf einige wenige Aspekte der Realität führt bei den Vertretern eines Therapieansatzes zu einer Begrenzung ihres Wahrnehmungsrahmens - sie übersehen eine Vielzahl von Faktoren im Verhalten und Erleben ihrer Klienten sowie in deren Lebenssituation. Daraus folgt natürlich, dass auch Ansatzpunkte für Interventionen nicht erfasst werden oder dass diese aufgrund des eingeschränkten Repertoires an Strategien und Techniken, das von dem jeweiligen Therapieansatz zur Verfügung gestellt wird, nicht genutzt werden können. So ist es nicht verwunderlich, dass die Erfolgsquoten von Psychotherapeuten sehr niedrig sind (vgl. Garfield und Bergin 1978), nur 53% berufserfahrener (amerikanischer) klinischer Psychologen mit ihrer beruflichen Tätigkeit zufrieden sind (Kelly et al. 1978), selbst führende Verhaltenstherapeuten ihr mangelndes Verständnis vom menschlichen Verhalten beklagen (Mahoney 1979) und sich vor mehr als zehn Jahren bereits 55% aller Psychotherapeuten in den USA als Eklektiker bezeichneten (Garfield und Kurtz 1976).

Was sind überhaupt Psychotherapie-"Theorien"? Sicherlich sind es keine wissenschaftlichen Theorien - empirisch begründete, nachprüfbare (wiederholbare), in ihrem Inneren konsistente, logische und Voraussagen ermöglichende Modelle zur Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens sowie zur Anleitung des zielbestimmten Einsatzes von hinsichtlich ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit überprüften Verfahren zu deren Modifikation. Psychotherapieansätze umfassen nicht alle erkannten Bedingungen menschlichen Verhaltens und Erlebens, bestimmen nicht deren Verknüpfungen und spezifisches Gewicht. Sie stellen keine hypothetische Ordnung aller in der Lebenssituation von Klienten oder in der Therapiesituation erfassbaren Faktoren dar, reduzieren nicht die Komplexität der Realität auf wenig simplifizierende Weise und ordnen nicht alle relevanten empirischen Erkenntnisse aus Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft oder Medizin in ein theoretisches System ein.

Therapieansätze sind aber auch nicht Alltagstheorien. Mit diesem Begriff werden subjektive Theorien bezeichnet, mit deren Hilfe Individuen eigenes und fremdes Erleben und Verhalten analysieren, erklären und vorhersagen. Diese helfen ihnen auch, sich in unbekannten Situationen zurechtzufinden und sicher zu fühlen, indem sie die Komplexität der Realität bis hin zur Simplifikation reduzieren. So dienen Alltagstheorien der Verhaltenssteuerung, sind zur praktischen Anwendung gedacht und somit zumeist zweckgerichtet. Auch nennen sie Einzelbedingungen bzw. Bedingungskonstellationen, deren Herstellung zur Veränderung des Erlebens und Verhaltens anderer Menschen führen soll. Sie werden zumeist auf der Grundlage allgemeiner Erfahrungen im täglichen Leben entwickelt und im praktischen Handeln oder im Gespräch mit anderen überprüft. Alltagstheorien, die Ursachen menschlichen Verhaltens und Verfahren zu dessen Veränderung umfassen, unterscheiden sich von Therapieansätzen dadurch, dass sie weniger bewusst und reflektiert, impliziter, einfacher, unsystematischer und unpräziser sind. Zudem sind sie noch weniger validiert und nachprüfbar.

Meines Erachtens handelt es sich bei Therapieansätzen um ein "Zwischending" zwischen wissenschaftlichen und Alltagstheorien. Einerseits umfassen sie eine zumeist recht einseitige und auf einen bestimmten Schwerpunkt (z.B. Unbewusstes, Verhalten, Kognitionen oder Familienbeziehungen) hin bezogene Auswahl wissenschaftlicher Konzepte, Hypothesen und Erkenntnisse. Andererseits enthalten sie ein hohes Maß an eigener Erfahrung, werden durch subjektive Erlebnisse in der Therapiesituation geprägt und in Gesprächen mit Kollegen modifiziert. An anderer Stelle (Textor 1983, 1985) habe ich sie als "persönliche Theorien" definiert, da zum einen jeder Therapeut - auch wenn er sich einer Schule der Psychotherapie zurechnet - einen ganz individuellen, einzigartigen und unverwechselbaren Therapieansatz besitzt und da zum anderen dieser durch die Kindheitserfahrungen, interpersonalen Erlebnisse, Menschenbilder, Werte, Persönlichkeitsfaktoren und Lebenseinstellungen desselben geprägt wird.

Da Therapieansätze persönliche Theorien sind, werden sie immer unwissenschaftlich bleiben. Und da sie in komplexen und vielschichtigen Situationen praktisch angewendet werden sollen, müssen sie immer einseitig und schwerpunktbezogen bleiben. Therapeuten können ja nicht all die unzähligen, während der Behandlung von Klienten auf sie einstürzenden Eindrücke, Wahrnehmungen und Stimuli erfassen und verarbeiten, sowie gleichzeitig ihre eigenen Reaktionen beobachten und ihre Interventionen planen. Um effektiv und erfolgreich sein zu können, müssen sie sich auf eine sinnvolle Auswahl von Faktoren konzentrieren, sich also mit einem Ausschnitt der Realität begnügen. Nur in diesem eingeschränkten Bereich können sie ein akzeptables Maß an Überschaubarkeit, Klarheit und Sinn erreichen. Und nur so können sie sich ihre Handlungsfähigkeit erhalten. Therapieansätze dienen also den Therapeuten als "Leitfaden" durch eine unübersichtliche Situation, lenken ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte mögliche Ursachen pathologischen Verhaltens und bieten ihnen speziell zur Bekämpfung dieser ätiologischen Faktoren geeignete Techniken an. Deshalb eignen sich auch einige Therapieansätze besser als andere für bestimmte Probleme, Kliententypen oder Altersstufen.

Obwohl Therapieansätze immer einseitige, aspekthafte und durch die Individualität der Therapeuten geprägte "persönliche Theorien" sein werden, dürfen wir uns mit dieser Situation nicht zufrieden geben. Zum einen müssen wir uns immer wieder bewusst machen, dass unsere Ansätze nur einen Teil der menschlichen Realität widerspiegeln, nur einen Teil der Ursachen gestörten Erlebens und Verhaltens erfassen, nur einen Teil erfolgversprechender Interventionen enthalten. Das sollte dazu führen, dass wir unsere Ansätze nicht mehr verabsolutieren und andere Theorien rigoros ablehnen, sondern dass wir uns mit ihren Konzepten, Hypothesen und Techniken auseinandersetzen, geeignete übernehmen, offen für neue Gedanken bleiben und fortwährend dazulernen. Zum anderen müssen wir danach trachten, unsere Therapieansätze wissenschaftlich zu fundieren. Dazu sollten wir uns vermehrt mit den empirischen Forschungsergebnissen aus den Bereichen der Allgemeinen, Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, der Soziologie und Medizin beschäftigen und, wenn möglich, auch selbst Therapieforschung betreiben.

Vor allem aber scheint es mir wichtig zu sein, nach einer "integrativen Theorie" der Psychotherapie zu streben. Wenn einzelne Therapieansätze nur ein Segment der Wirklichkeit erfassen, nur bestimmte Ursachen psychischer Probleme berücksichtigen und nur auf diese gerichtete therapeutische Verfahren anbieten, dann lassen sie sich als wesentliche Vorarbeiten für eine umfassendere Theorie betrachten. Wie ich es für den Bereich der Familientherapie zu praktizieren versucht habe (Textor 1985), lassen sich nahezu alle behandlungsrelevanten Erkenntnisse, Konzepte, Hypothesen, diagnostischen Verfahren und Techniken bekannter Therapierichtungen zu einem harmonischen Ganzen vereinen. So werden ja von den einzelnen Ansätzen komplementäre Aspekte der Realität, unterschiedliche Ursachen derselben Störungen und ähnlich erfolgreiche Techniken beschrieben, die somit kompatibel sind (das trifft auch auf scheinbar gegensätzliche Elemente zu, die zumeist von einer "höheren Warte" aus einer Synthese zugeführt werden können).

Eine derartige "integrative Theorie" der Psychotherapie würde (1) der Komplexität der Realität, (2) einem ganzheitlichen Menschenbild, bei dem das Individuum als ein einzigartiges Leib-Seele-Geist-Wesen konzeptualisiert wird, und (3) der Multikausalität menschlicher Probleme entsprechen. Gleichzeitig müssten aber auch interpersonale Beziehungen und größere soziale Systeme wie Familie, Freundeskreis, Netzwerk, Arbeitswelt und Gesellschaft hinsichtlich der von ihnen ausgehenden positiven und negativen Einflüsse mit berücksichtigt werden. Diese Theorie würde dem Therapeuten die größtmögliche Zahl an diagnostischen Verfahren, Strategien, Techniken und Verhaltensstilen anbieten, mit denen nahezu alle körperlichen, psychischen und geistigen Prozesse beeinflusst werden könnten. Dann ließen sich für jeden Klienten die seiner Individualität entsprechenden und die für seine speziellen Probleme am besten geeigneten Behandlungsmethoden auswählen. Eine "integrative Theorie", die nur von einer Gruppe von Therapeuten aus verschiedenen Schulen der Psychotherapie sowie von Forschern aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen entwickelt werden kann, würde sich aber vor allem in der Ausbildung sowie als "Handbuch" der Praktiker für die Fälle bewähren, in denen die Behandlung eines Klienten Schwierigkeiten macht, in eine Sackgasse geraten ist oder den Therapeuten vor unbekannte Probleme stellt.

Quelle

Aus: Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik 1988, 33, S. 51-54

Literatur

Garfield SL, Bergin AE (1973) (eds) Handbook of psychotherapy and behavior change: An empirical analysis, 2nd ed. Wiley, New York Chicester Brisbane

Garfield SL, Kurtz R (1977) A study of eclectic views. J Consult Clin Psychol 45: 78-83

Herink R (1980) (ed) The psychotherapy handbook: The A to Z guide to more than 250 different therapies in use today. New American Library, New York

Kelly EL, Goldberg LR, Fiske DW, Kilkowski JM (1978) Twenty-five years later. Am Psychol 33: 746-755

Mahoney MJ (1979) Cognitive and noncognitive views in behavior modification. In: Sjödén PO, Bates S, Dockens WS III (eds) Trends in behavior therapy. Academic Press, New York, pp 39-54

Textor MR (1983) Integrative Psychotherapie. In: Integrative Psychotherapie. Münchner Beiträge zur Integrationsforschung, Bd 1. Schobert, München, S. 29-41

Textor MR (1985) Integrative Familientherapie. Eine systematische Darstellung der Konzepte, Hypothesen und Techniken amerikanischer Therapeuten. Springer, Berlin Heidelberg New York