Schriftspracherwerb - eine wichtige Leistung von Eltern

Martin R. Textor

 

Viele wissenschaftliche Untersuchungen haben in den letzten Jahrzehnten nachgewiesen, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten hinsichtlich ihrer Schullaufbahn gegenüber Kindern aus oberen sozialen Schichten benachteiligt sind. Inzwischen wurden viele bildungspolitische Maßnahmen in Kindertageseinrichtungen und Schulen eingeführt, die zu gleichen Bildungschancen aller Kinder führen sollten. Der Erfolg hält sich bisher in Grenzen - und der Hauptgrund hierfür ist, dass die Familien der Kinder aus unteren sozialen Schichten zu wenig einbezogen werden. Dies soll kurz am Beispiel des Schriftspracherwerbs verdeutlicht werden.

Kleinkinder erlernen die deutsche Sprache in ihren Familien, sieht man einmal von einigen Migrantenfamilien ab. Allerdings unterscheidet sich das gelernte Deutsch hinsichtlich des Umfangs des Vokabulars, der Komplexität des Satzbaus und der Grammatik zwischen Familien aus unteren und oberen sozialen Schichten. Beispielsweise wird in bildungsfernen Familien vor allem im Hier und Jetzt kommuniziert. Da die Familienmitglieder dieselbe Situation erleben, reichen für die Verständigung kurze Aussagen und Teilsätze. Hingegen wird in bildungsnahen Familien in viel größerem Maße von der de-kontextualisierten Sprache Gebrauch gemacht, d.h. es werden Situationen und Ereignisse genau beschrieben, die andere Familienmitglieder nicht miterlebt haben. Dazu sind ein reichhaltigerer Wortschatz und ein komplizierterer Satzbau nötig. Diese de-kontextualisierte Sprache wird auch in schriftbezogenen Medien verwendet, also in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Solche Medien finden sich in höherem Maße in Familien aus oberen sozialen Schichten, so dass Kinder frühzeitig an deren Nutzung herangeführt werden. Zudem wird die de-kontextualisierte Sprache auch von Lehrern und in Schulbüchern verwendet. Dementsprechend haben Kinder aus bildungsnahen Familien schon einen großen Vorsprung bzw. Vorteil gegenüber Kindern aus bildungsfernen Familien, der zumeist während der (Grund-) Schulzeit nicht ausgeglichen werden kann.

Da die bisherigen kompensatorischen Maßnahmen in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen wenig gefruchtet haben, müsste verstärkt versucht werden, durch elternbildende Maßnahmen das Kommunikationsgeschehen in bildungsfernen Familien zu verbessern. Hierzu liegen erste Erfahrungen aus den USA (z.B. National Center for Family Literacy, www.famlit.org) und Großbritannien (z.B. Basic Skills Agency, www.skillsforlifenetwork.com/the-basic-skills-agency) vor, wo "Familienliteralisierungs"-Kurse mit Angeboten für Eltern, für Kinder sowie für Eltern und Kinder durchgeführt werden. Während mit den Kindern sprachliche, kreative und buchbezogene Aktivitäten durchgeführt werden, erhalten ihre Eltern Informationen über die kindliche Sprachentwicklung und die Förderung der de-kontextualisierten Sprache. Außerdem werden relevante Aktivitäten vorbereitet, die von den Eltern mit ihren Kindern während der Familienzeit durchgeführt werden. Dabei werden sie von den Kursleitern angeleitet. Ferner wird ihr Verhalten in der Elternzeit reflektiert. Auf diese Weise wird das Gelernte gleich in die Kindererziehung übertragen.

Erste Forschungsergebnisse belegen, dass durch relativ kurze Kurse nicht nur die Nutzung der de-kontextualisierten Sprache in den Familien gesteigert und das Unterstützungsverhalten der Eltern intensiviert, sondern auch die Lese- und Schreibkompetenz von Eltern und Kindern gestärkt werden konnte. Aufgrund dieser positiven Erfahrungen sollte auch in Deutschland verstärkt versucht werden, direkte Zugänge in sozial schwache bzw. bildungsferne Familien zu finden und das dortige "Bildungsgeschehen" zu verbessern - inklusive einer intensiveren Verwendung der de-kontextualisierten Sprache! Erste Pilotprojekte gibt es seit einigen Jahren an mehreren Hamburger Schulen (Projekt "FLY", z.B. http://li.hamburg.de/family-literacy).