Psychotherapie - Charakteristika und neue Entwicklungen

Martin R. Textor

 

In den 1960-er und 1970-er Jahren ist eine Vielzahl von Therapietheorien entwickelt worden. So werden in Herinks (1980) Sammelband schon mehr als 250 bekannte Therapieansätze unterschieden. Vielfach war die Entstehung einer Therapietheorie mit der Bildung einer "Schule" der Psychotherapie verbunden - vor allem dann, wenn die führenden Repräsentanten charismatische Persönlichkeiten sind, sehr viel publizieren, an vielen Orten Vorträge halten und mit ihren Aussagen den Zeitgeist treffen. Sie selbst oder ihre Anhänger verabsolutieren häufig den jeweiligen Therapieansatz, bezeichnen ihn als den besten und lehnen andere ab - ja, vielfach reagieren sic auf die Ideen, Erkenntnisse, Begriffe und Verfahren anderer Schulen der Psychotherapie mit unbegründeter Kritik, mangelndem Verständnis, Misstrauen, Ablehnung oder gar Spott. Sie identifizieren sich mit der eigenen Therapierichtung und entwickeln ein festverwurzeltes Einstellungssystem, das nur schwer zu verändern ist. Zudem wird es fortwährend dadurch verstärkt, dass nur Publikationen von Psychotherapeuten derselben Grundorientierung gelesen und nur Veranstaltungen der eigenen Schule der Psychotherapie besucht werden. Oft ist die Mitgliedschaft in den Organisationen einer Therapierichtung mit persönlichen, beruflichen oder gar handfesten finanziellen Vorteilen verbunden (vgl. Garfield 1982a; Goldfried, Padawar 1982; Textor 1983b; Rhoads 1984).

Die Anhänger einer Schule der Psychotherapie unterziehen ihre Klienten zumeist einer Standardbehandlung, die den erlernten Konzepten, Strategien und Verfahren entspricht. Vielfach wird nahezu dieselbe Vorgehensweise bei allen Patienten angewandt - unabhängig von deren Problemen und Persönlichkeitscharakteristika. So meint Rauchfleisch (1982): "Welcher Art der Behandlung ein Patient zugeführt wird, hängt also unter Umständen wesentlich davon ab, welchen Therapeuten er aufsucht" (S. 29). Jedoch sind nicht die einzelnen Therapieansätze für alle Typen von Klienten und alle Arten von Problemen gleich gut geeignet. So ist z.B. die Psychoanalyse wenig erfolgreich bei Schizophrenie und Phobien, die Verhaltenstherapie bei intensiven Persönlichkeitsstörungen und die Klientenzentrierte Psychotherapie bei Soziopathie. Frank (1984) ergänzt: "Es mag gut sein, dass der Erfolg eines Therapeuten mit bestimmten Patienten davon abhängt, inwieweit das therapeutische Programm mit dem Problemlösungsstil des Patienten übereinstimmt. So mögen zum Beispiel Gesprächstherapien am erfolgreichsten bei Patienten sein, die introspektiv und selbstanalytisch sind; Verhaltenstherapien und Kognitive Therapien würden besonders attraktiv für Klienten sein, die ihre Probleme aktiv durch Handeln oder rationales Denken zu lösen versuchen; und Humanistische Therapien mögen am meisten philosophisch gesinnte Patienten ansprechen" (S. 23; vgl. Garfield, Bergin 1978; Boy, Pine 1983; Lazarus 1983).

Die "Inflation" von Therapierichtungen, die Schulbildung und der mangelnde Erfolg von Therapieansätzen bei bestimmten Kliententypen und Problemen hat zu einer Art "Krise" der Psychotherapie geführt (Goldfried 1983). Diese wurde in den vergangenen Jahren noch dadurch verstärkt, dass aufgrund geringerer finanzieller Ressourcen und wegen der fortschreitenden Desillusionierung hinsichtlich der unhaltbaren Ansprüche immer neuer Therapieansätze vermehrt nach der Effektivität, Effizienz und Qualität psychotherapeutischer Verfahren seitens der Öffentlichkeit (Krankenkassen, Ministerien, Politikern usw.) gefragt wird. Die angedeutete Situation hat auch bei erfahrenen Psychotherapeuten zu Unzufriedenheit geführt. So befragten Kelly et al. (1978) 156 amerikanische Therapeuten, die 25 Jahre zuvor ein Graduiertenstudium in Klinischer Psychologie begonnen hatten. Nur 53% der Befragten waren mit ihrer beruflichen Tätigkeit zufrieden; 54 % würden denselben Beruf nicht nochmals wählen. Larson (1980) stellte fest, dass mehr als 60% der von ihm interviewten Therapeuten es als schwierig erleben, klinisch im Rahmen einer Schule der Psychotherapie zu wirken. Und 42 führende Verhaltenstherapeuten antworteten in einer Befragung durch Mahoney (1979), dass sie sehr unzufrieden mit ihrem gegenwärtigen Verständnis menschlichen Verhaltens seien. So kritisieren Praktiker die Einschränkung durch Schulen der Psychotherapie, das fehlende psychologische Grundwissen und den begrenzten Erfolg ihrer Interventionen (vgl. Plaum 1981; Textor 1983a).

Charakteristika von Therapieansätzen

Vergleicht man die derzeitigen Therapieansätze miteinander, so muss man als erstes ihre Einseitigkeit konstatieren. So konzentrieren sich die Schulen der Psychotherapie auf bestimmte "Elemente" (Textor 1983b), d.h. auf ausgewählte umfassende Bereiche des menschlichen Organismus und der sozialen Umwelt. Dieses lässt sich an Fittkaus (1981) Unterscheidung von sechs Dimensionen, nämlich von Intellekt, Gefühl, Verhalten, Körper, Geist und Materie, sowie der ihnen entsprechenden Zuordnung bekannter Therapierichtungen (ihrer "schwerpunktmäßigen Zentrierung" entsprechend) verdeutlichen (s. S. 26, 28):

  1. Intellekt-, einsichtsorientierte Verfahren: Psychoanalyse, Individualpsychologie, Analytische Psychologie, Transaktionsanalyse, Kognitive Verhaltenstherapien;
  2. Gefühls-, erlebensorientierte Verfahren: Klientenzentrierte Gesprächstherapie, Psychodrama, Gestalttherapie;
  3. Verhaltensorientierte Verfahren: "Klassische" Verhaltenstherapie, Kommunikationstherapien;
  4. Körperorientierte Verfahren: Bioenergetik, Eutonie, Bewegungserziehung, T'ai Chi Chuan;
  5. Geist-, transzendenzorientierte Verfahren: Psychosynthesis, Meditation, Yoga;
  6. Materieorientierte, chemophysische Verfahren: Chirurgie, medikamentöse Behandlung, ernährungstherapeutische Verfahren.

Auf Bereiche der sozialen Umwelt (Familie, Netzwerk, größere Systeme) konzentrieren sich hingegen Gruppentherapie, Systemtherapie, Familientherapie, Netzwerktherapie und Gemeinwesenarbeit (vgl. Petzold 1980; Textor 1983b). Fittkau merkt zu der von ihm vorgenommenen Zuordnung von Dimensionen (bzw. Elementen) und Therapierichtungen an: "Natürlich ist diese Auflistung nicht vollständig, noch sind die getroffenen Zuordnungen eindeutig. Dennoch macht diese Übersicht deutlich, dass die verschiedenen therapeutischen Richtungen jeweils bestimmte Aspekte des Menschen und seiner psychischen Schwierigkeiten besonders scharf in den Blick nehmen und ihre Verfahren sich in der Regel nicht ausschließen sondern ergänzen" (1981, S. 28). Hinzu kommt, dass die einer Schule der Psychotherapie zugeordneten Therapieansätze wiederum nur bestimmte "Aspekte" (Textor 1983b) des von der Therapierichtung betonten Elementes herausstellen, wobei die Auswahl von dem Standpunkt und der Perspektive des jeweiligen Therapeuten abhängt.

Die Konzentration von Therapieansätzen auf bestimmte Elemente und Aspekte führt auf Seiten der Therapeuten zu einer Begrenzung des Wahrnehmungsrahmens. So werden in der Persönlichkeit und im Lebensbereich von Klienten sowie in der Therapiesituation die von der jeweiligen Theorie vernachlässigten Faktoren übersehen, werden Ursachen von Problemen und Ansatzpunkte für Interventionen nicht erkannt (vgl. Boy, Pine 1983; Lazarus 1983; Textor 1983a, b; Kazdin 1984; Schacht 1984). Da diese Tatsache auf alle Therapieansätze zutrifft, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich hinsichtlich ihrer allgemeinen Effektivität nur wenig unterscheiden. Nachdem Frank (1984) festgestellt hat, dass alle wohl in der Regel positive Wirkungen erzielen, meint er: "Der Vergleich von einer Therapieform mit einer anderen hat jedoch nicht überzeugend nachgewiesen, dass irgendeine hinsichtlich der meisten psychiatrischen Krankheitsbilder irgendeiner anderen überlegen ist" (S. 18; vgl. Garfield, Bergin 1978; Hyan 1981). Hinzu kommt, dass den meisten Therapieansätzen Strategien und Techniken fehlen, die für alle Probleme und Kliententypen geeignet sind.

Ferner ist festzustellen, dass Therapieansätze nicht ausgefeilte wissenschaftliche Theorien sind, die eine hypothetische Ordnung in einem bestimmten Erkenntnisbereich darstellen oder die Wirklichkeit widerspiegeln sollen. Auch beruhen sie in der Regel nicht auf empirischen Daten, die durch systematische Beobachtungen und Befragung oder in Experimenten erarbeitet wurden. Vielmehr sind die meisten Konzepte und Hypothesen auf intuitive Weise während der Behandlung von Menschen mit Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen gewonnen worden und können deshalb nur schwer auf "normale" Personen übertragen werden. Auch werden die Erkenntnisse der Allgemeinen, Sozial- und Persönlichkeitspsychologie, der Therapieforschung, der Soziologie und der Pädagogik vielfach nur unzureichend berücksichtigt oder gar ignoriert (vgl. Garfield 1982a; Hilton 1983; Textor 1983b, 1985).

Für mich sind Therapieansätze "persönliche Theorien" (Textor 1983b), da zum einen jeder Therapeut, auch wenn er sich einer Schule der Psychotherapie anschließt, mit der Zeit einen eigenen Therapieansatz entwickelt. Dieser unterscheidet sich in mehr oder weniger Aspekten von denen seiner Kollegen (derselben Schule). So entspricht letztlich die Zahl der Therapieansätze der Zahl der Psychotherapeuten. Zum anderen wird jeder Ansatz durch die Persönlichkeit, Lebensgeschichte, Einstellungen und Werte des jeweiligen Therapeuten, durch dessen Menschenbild und Selbstkonzept geprägt (vgl. Schultz 1976; Boy, Pine 1983). Schließlich dient er in erster Linie den beruflichen und persönlichen Interessen desselben. Genauso wenig wie ein guter Manager sein Unternehmen entsprechend ausgefeilten, umfassenden und detaillierten betriebswirtschaftlichen Theorien leiten kann, ist dem Therapeuten eine wissenschaftliche Theorie von Nutzen, die alle Variablen hinsichtlich der Persönlichkeit und des Verhaltens von (gestörten) Menschen oder in der sozialen Umwelt und in der Therapiesituation berücksichtigt. Vielmehr benötigt er einen Therapieansatz, der ihm hilft, eine sinnvolle, handhabbare und systematische Auswahl aus den vielen auf ihn während einer Behandlung einströmenden Eindrücke, Wahrnehmungen, Empfindungen und Stimuli zu treffen. Da er nicht alle verbalen und nonverbalen Reaktionen seiner Klienten, alle intrapsychischen und interpersonalen Prozesse, alle situativen Variablen und Umweltfaktoren erfassen, verarbeiten und auswerten sowie gleichzeitig seine Interventionen planen, Techniken einsetzen und das eigene Verhalten überprüfen kann, dient ihm sein Therapieansatz als "Leitfaden" durch diese komplexe und unüberschaubare Situation. Durch die Beschränkung auf einzelne Elemente und Aspekte lenkt er die Aufmerksamkeit des Therapeuten auf bestimmte Variablen, zeigt Beziehungen zwischen ihnen auf, erlaubt ihre Bewertung (als normal oder pathologisch) und bietet Erklärungen hinsichtlich ihrer Bedeutung und Ursachen an. Gerade aufgrund ihrer Einseitigkeit, wegen der durch sie verursachten Begrenzung des Wahrnehmungsrahmens und aufgrund ihres mit dem Begriff "persönliche Theorie" angedeuteten Charakters bringen Therapieansätze Klarheit, Sinn und Ordnung in die sehr komplexe Behandlungssituation (vgl. Fuerst 1983; Textor 1983b).

Somit werden Therapieansätze immer "persönliche Theorien" mit all den beschriebenen Charakteristika sein. Jedoch sollte sich ein Therapeut dieser Eigenschaften immer bewusst sein. Dann wird er seinen Ansatz nicht verabsolutieren und eher geneigt sein, intensiv an ihm zu arbeiten und ihn immer wieder um neue Konzepte, Hypothesen und Techniken zu erweitern. Auch wird er bereit sein, sich mit anderen Therapierichtungen auseinanderzusetzen, und von ihnen zu profitieren versuchen. So schreiben Boy und Pine (1983): "Der theoretisch erneuerte Berater ist zu einem Prozessmodell der Beratung durch Studium, Introspektion, Forschung und die Internalisierung theoretischer Konstrukte gekommen. Ein derartiger Berater besitzt große Achtung und Respekt für die legitimen Theorien der Beratung. Er hängt nicht blind einer einzigen Theorie an und ignoriert andere Sichtweisen" (S. 254).

Neue Entwicklungen im Bereich der Psychotherapie

In den vergangenen Jahren haben immer mehr Therapeuten erkannt, dass Therapieansätze, wie beschrieben, nur einen Teil der Lebens- und Behandlungssituation widerspiegeln und nur eine begrenzte Zahl von Strategien und Techniken anbieten. Diese Erkenntnis hat zu einigen positiv zu bewertenden Entwicklungen im Bereich der Psychotherapie geführt, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.

1. Eklektizismus

Während in der Öffentlichkeit und in vielen wissenschaftlichen Zeitschriften die Repräsentanten von Schulen der Psychotherapie den Ton angeben, hat sich in der Praxis eine stille Revolution abgespielt: Immer mehr Praktiker verwenden Konzepte, Hypothesen, Strategien und Techniken von verschiedenen Therapierichtungen, wobei sie die Schwächen der einen durch die Stärken der anderen zu kompensieren versuchen. Sie entnehmen ihnen solche theoretischen Konstrukte und Methoden, die der Einzigartigkeit des jeweiligen Patienten und seinen speziellen Problemen am ehesten entsprechen (also eine "maßgeschneiderte" Behandlung ermöglichen), die den größten und schnellsten Erfolg erwarten lassen und mit denen sie als Personen mit ganz bestimmten Fähigkeiten, Eigenschaften und Einstellungen am besten arbeiten können. So variieren sie fortwährend ihre Vorgehensweise. Dabei werden die benutzten Therapieansätze nicht miteinander verschmolzen, sondern in ihrer Eigenständigkeit anerkannt. Auch werden ihnen immer nur einige wenige Theorieelemente und Techniken entnommen - Therapeuten können ja nur erfolgreich sein (s.o.), wenn sie sich auf bestimmte Bestandteile und Aspekte der Behandlungssituation konzentrieren (vgl. Plaum 1981; Urban 1981; Garfield 1982a; Thorne 1982; Textor 1983a; Kazdin 1984).

Viele Praktiker verwenden aber auch immer dieselben zwei Therapieansätze, wobei sie zumeist in beiden eine Ausbildung absolviert haben. In der Regel wählen sie eine der folgenden vier Kombinationsmöglichkeiten:

  1. Einige Psychotherapeuten setzen immer denjenigen Therapieansatz ein, der sich für das gerade in Angriff genommene Problem eines bestimmten Klienten am besten eignet.
  2. Andere machen in der Regel von beiden Ansätzen gleichzeitig Gebrauch, wobei sie mit einer größeren (oder gar synergistischen) Wirkung als bei der Verwendung nur einer Theorie rechnen.
  3. Manche benutzen den zweiten Therapieansatz nur zu Beginn einer Behandlung, um beispielsweise hinderliche Symptome oder Verhaltensweisen (z.B. durch die Verwendung von Medikamenten oder verhaltenstherapeutischen Techniken) schnell abbauen zu können oder um durch erste rasche Therapieerfolge den Klienten zu einer langwierigen (z.B. tiefenpsychologisch orientierten) Behandlung zu motivieren.
  4. Schließlich kann der zweite Therapieansatz auch als Hilfsmittel während einer Behandlung eingesetzt werden, um diese beispielsweise aus einer Sackgasse herauszuführen oder um bestimmte Zwischenziele (z.B. durch die Einübung fehlender Reaktionen mit Hilfe verhaltenstherapeutischer Techniken bei einer überwiegend gesprächstherapeutisch orientierten Behandlung) zu erreichen.

(vgl. Birk, Brinkley-Birk 1974; Garfield, Kurtz 1977; Klennan 1983; Rhoads 1984; Schacht 1984). Einige Therapeuten orientieren sich auch weiterhin nur an einem einzigen Therapieansatz, übernehmen aber einzelne Techniken von anderen Schulen der Psychotherapie (ohne die zugrundeliegenden Theorien anzuerkennen), um so die eigene Effektivität zu verbessern (z.B. Lazarus 1967, 1983).

Alle diese Vorgehensweisen lassen sich unter dem Begriff "Eklektizismus" zusammenfassen. Laut einer im Jahre 1961 publizierten Befragung rechneten sich in den USA bereits 40% der Klinischen Psychologen dieser Bewegung zu (Kelly 1961) - anderthalb Jahrzehnte später waren es schon 58% (Kelly et al. 1978). Garfield und Kurtz (1976) ermittelten mit 55% ein vergleichbares Ergebnis für "Psychotherapeuten". Zu beachten ist jedoch, dass sich auch viele Repräsentanten der folgenden zwei Entwicklungen im Bereich der Psychotherapie als Eklektische Therapeuten bezeichnen.

2. Synthese von zwei Therapierichtungen

Einige Praktiker mit starker theoretischer Orientierung verschmelzen auch zwei Therapierichtungen zu einem neuen Therapieansatz. Sie entnehmen beiden die in ihren Augen wichtigsten Erkenntnisse, Konzepte und Methoden, systematisieren sie und fügen sie auf durchdachte Weise zusammen, so dass sie eine komplexere Theorie der Persönlichkeit, der sozialen Umwelt und der Pathologie sowie eine größere Zahl diagnostischer Verfahren, Strategien und Techniken erhalten. So schreibt z.B. Wachtel (1984): "Mein Ziel ist nicht einfach die praktische Anwendung einer Kombination von klinischen Vorgehensweisen, sondern vielmehr die Arbeit in Richtung auf eine gründliche konzeptuelle Integration" (S. 37). Zumeist werden Psychoanalyse und Verhaltenstherapie miteinander verschmolzen (Birk, Brinkley-Birk 1974; Wachtel 1977, 1982, 1984; Rhoads 1981, 1984; Brady 1982; Marmor 1982; Arkowitz 1984; Salzman 1984); jedoch werden auch Synthesen mit Ansätzen der Humanistischen Psychotherapie (Petzold 1980; Ricks, Wandersman, Poppen 1982) und anderen Therapierichtungen (vgl. Garfield, Kurtz 1977; Goldfried 1982; Goldfried, Padawar 1982) versucht.

3. Integrative Psychotherapie

Eine noch recht kleine Gruppe von Therapeuten ist bestrebt, nahezu alle bekannten Therapierichtungen zu einer umfassenden Theorie der Persönlichkeit, des "gesunden" Menschen, der Psychopathologie und der Psychotherapie i.e.S. zu verschmelzen. Dabei gehen sie zumeist von einem ganzheitlichen Menschenbild aus, konzeptualisieren das Individuum als einen einzigartigen Körper-Seele-Geist-Organismus und betrachten es als ein denkendes, empfindendes, fühlendes und handelndes Wesen, das in einer physikalischen und sozialen Umwelt lebt. Wenn sich alle Therapierichtungen auf verschiedene Dimensionen des menschlichen Wesens, des interpersonalen Kontextes und der Gesellschaft konzentrieren (s.o.), dann müsste die systematische Vereinigung komplementärer Elemente und die (von einer höheren Warte aus vorgenommene) Synthese scheinbar gegensätzlicher Elemente ein Ganzes ergeben, das der Komplexität der individuellen und sozialen Realität entspricht. Zudem dürften Therapeuten auf diese Weise eine die Vielzahl der Kliententypen, der Arten von Problemen und der Ursachen psychischer Störungen widerspiegelnde Menge von diagnostischen Verfahren, Verhaltensrichtlinien, Strategien und Therapietechniken erhalten. So wäre es ihnen möglich, eine der Einzigartigkeit eines jeden Falles entsprechende "maßgeschneiderte" Behandlung durchzuführen. Sie erhielten also nicht nur eine umfassende Theorie von neuer Qualität (eine Integrative Theorie der Psychotherapie wäre keine "persönliche Theorie" mehr, sondern eine wissenschaftliche), sondern würden wahrscheinlich auch effektiver und effizienter arbeiten (vgl. Hunt 1976; Greenbaum 1979; Petzold 1980; Urban 1981; Prochaska, DiClemente 1982; Textor 1983a, b; Schacht 1984).

Schema 1: Die Integration von Therapierichtungen

  Integrative Psychotherapie
Medikamentöse Behandlung
Chirurgie
Atem- und Bewegungstherapien
Bioenergetik
Körper
Verhaltenstherapien
Kommunikationstherapien
Verhalten
Psychoanalyse
Tiefenpsychologie
Unbewusstes
Klientenzentrierte Psychotherapie
Gestalttherapie
Gefühle/Erleben
Rational-Emotive Therapie
Kognitive Verhaltenstherapien
Kognition
Gruppentherapien
Familientherapien
Soziodrama
interpersonale Umwelt
Milieutherapie
Gemeinwesenarbeit
gesellschaftlicher Kontext

Verschiedene Therapierichtungen ließen sich entsprechend Schema 1 in eine Integrative Theorie der Psychotherapie inkorporieren, wobei eine Systematisierung und Verknüpfung sowohl auf der Ebene der Konzepte, theoretischen Konstrukte und Hypothesen als auch auf den Ebenen der Strategien und der Techniken erfolgen müsste (vgl. Petzold 1980; Fittkau 1981; Textor 1983b). Aufgrund der Vielzahl von Therapieansätzen sind bisher nur Modelle für eine Integration entwickelt worden; umfassende Theorien liegen meines Wissens noch nicht vor. Ich habe jedoch versucht, alle bekannteren amerikanischen Ansätze der Familientherapie in eine umfassende Theorie zu integrieren (Textor 1985), und somit eine m.E. wichtige Vorarbeit (auf der sechsten Ebene von Schema 1) geleistet. Es ist allerdings offensichtlich, dass eine Integrative Theorie nur von einer Gruppe von Psychotherapeuten und Wissenschaftlern entwickelt werden kann und eine nie abzuschließende Unternehmung sein wird. Hinzu kommt, dass aufgrund des schwachen wissenschaftlichen Fundaments von Therapieansätzen auch relevante Erkenntnisse der Allgemeinen, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, der Biologie, Medizin, Pädagogik und Soziologie eingearbeitet werden müssten (vgl. Boy, Pine 1983; Schacht 1984).

Schlussbemerkungen

Abschließend ist noch zu erwähnen, dass einige Psychologen auch versuchen, die Vielzahl von Therapieansätzen durch eine vereinheitlichende wissenschaftliche Fundierung des psychotherapeutischen Tuns zu überwinden. So rekonstruiert z.B. van Quekelberghe (1979) bekannte Therapierichtungen auf der Grundlage der Kognitiven Psychologie (Betonung des Problemlösungsprozesses). Eine weitere Gruppe von Psychologen sucht nach Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Therapieansätzen. So wird z.B. die Bedeutung korrektiver Erfahrungen, des direkten Feedback, des wiederholten Testens der Realität und der Erfolgserwartungen betont- nichtspezifische Behandlungsfaktoren, die bei allen Therapieansätzen festzustellen sind (Garfield 1982b; Goldfried 1983; Frank 1984).

Während in den 50er und 60er Jahren Thorne (1982) der einzige Befürworter eines vollständigen Systems klinischer Praxis war, das auf einer durchgehend eklektischen Sichtweise beruht, hat in den 70er und 80er Jahren das Interesse an eklektischen und integrativen Vorgehensweisen stark zugenommen. So hat sich nicht nur die Zahl von Sammelbänden und Monographien zu dieser Thematik vervielfacht (für den deutschsprachigen Raum siehe z.B. Howe 1982; Petzold 1982; Textor 1983b, 1985; Plaum 1988), sondern es ist in den USA sogar schon ein "Handbook of Eclectic Psychotherapy" (Norcross 1986) veröffentlicht worden. Als ein wichtiges Publikationsorgan hat sich das "Journal of Integrative and Eclectic Psychotherapy" erwiesen, das 1988 bereits im 7. Jahrgang im Verlag Brunner/Mazel (New York) erschien. Viele Psychologen mit einem ausgeprägten Interesse an Eklektizismus und Integration haben sich zudem in zwei Organisationen zusammengeschlossen, nämlich in der "Society for the Exploration of Psychotherapy Integration" (mit Sitz in den USA) und der "International Academy of Eclectic Psychotherapists" (mit Sitz in Israel).

Quelle

Aus: Integrative Therapie 4/88, S. 269-280

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