Der Mensch auf dem Weg zum Halbgott

Martin R. Textor

 

Wir befinden uns im Übergang von der Dienstleistungs- zur Wissensgesellschaft. In den kommenden Jahrzehnten werden Wissenschaftler immer schneller neue Erkenntnisse produzieren, wird die technische Entwicklung sich weiter beschleunigen.

Viele Vordenker erwarten dann einschneidende Konsequenzen für das menschliche Leben. Unter dem Sammelbegriff "Transhumanismus" haben sie verschiedene Organisationen gegründet, die sich mit der Möglichkeit befassen, dass in wenigen Jahr(zehnt)en

  • durch den medizinischen Fortschritt das Leben über das 120. Lebensjahr hinaus verlängert und noch in diesem Jahrhundert die Unsterblichkeit erreicht werden könnte.
  • durch Implantate wie Computerchips oder durch künstliche Gliedmaße die kognitiven bzw. motorischen Fähigkeiten des Menschen in hohem Maße verbessert werden könnten.
  • durch neue Techniken Gehirninhalte in Computer übertragen werden könnten.

Wenig überraschend ist, dass ein Großteil der Transhumanisten in Kalifornien lebt; hier ist auch der Sitz der "World Transhumanist Association" (rund 5.000 Mitglieder), des Foresight Nanotech Institute, des Singularity Institute for Artificial Intelligence, der Methuselah Foundation und des Immortality Institute. Viele Transhumanisten haben an renommierten Hochschulen wie die Stanford oder die Oxford University promoviert; unter ihnen sind auch Multi-Millionäre. Oft werden sie zu Vorträgen von Google, Yahoo und anderen Wirtschaftsunternehmen eingeladen.

Transhumanisten betrachten den menschlichen Körper als unvollkommen und streben somit an, ihn "besser" – gesünder, leistungsfähiger, klüger, glücklicher usw. – bzw. "perfekt" zu machen. Dies könne mit Hilfe humangenetischer Verfahren oder mit Hilfe von Implantaten und künstlichen Gliedmaßen geschehen. Überraschend viel ist heute schon möglich: Beispielsweise gibt es bereits so gute Prothesen, dass bei der US Air Force ein Pilot mit einem künstlichen Bein tätig sein kann. Einige Taube können dank eines Neuroimplantats wieder hören, und Blinde wurden sehend gemacht, indem kleine Kameras über Drähte und Elektroden mit dem Sehzentrum im Gehirn verbunden wurden.

Aubrey de Grey von der Methuselah Foundation glaubt, dass junge Menschen von heute vielleicht schon unsterblich werden könnten. Er geht davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten Biotechnologie und Medizin so große Fortschritte machen werden, dass sie das Leben immer weiter verlängern können. Andere Transhumanisten setzen hingegen auf die Nanotechnologie, die bereits jetzt in vielen Wirtschaftszweigen angewendet wird. Sie gehen davon aus, dass es bald "Nanobots" – Roboter, die viel, viel kleiner als ein Staubkorn sind – geben wird, die im menschlichen Blutkreislauf schwimmen, nicht mehr funktionierende Zellen reparieren und Krebszellen zerstören werden.

Ralph Merkle von der Alcor Foundation glaubt sogar, dass Nanabots gerade gestorbene Menschen wiederbeleben können, indem sie durch den Körper wandern, die Körperfunktionen wiederherstellen und das Gehirn "rebooten". Wohl seien die Hirnzellen tot, aber die dort gespeicherten Informationen würden noch bestehen – wie in einem abgeschalteten Computer, der dann ja auch "tot" sei.

Von einer solchen Position aus gesehen ist es auch verständlich, dass manche Transhumanisten glauben, dass die im Gehirn gespeicherten Daten irgendwann in einen Computer übertragen werden könnten. Durch einen solchen "Upload" könnten nicht nur das Wissen und das Gedächtnis, sondern auch die Persönlichkeit und Psyche eines Menschen transferiert werden. Dann würde ein Individuum im Computer (oder in einem Roboter) weiterleben. Technisch könnte das Verfahren so ablaufen, dass das Gehirn in dünnste Scheiben geschnitten und diese dann eingescannt werden. Anschließend würden die enthaltenen Daten durch ein Computerprogramm extrahiert und wieder zusammengesetzt.

Parallel dazu wird weiter an der Verbesserung der künstlichen Intelligenz gearbeitet. Hier ist das Ziel, einen denkenden Computer mit eigener Persönlichkeit zu entwickeln. Der Erfinder und Sachbuchautor Raymond Kurzweil geht davon aus, dass nur eine solche "Singularität" auf Dauer mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt mithalten kann – und diesen weiter beschleunigen wird. So würde die künstliche Intelligenz bereits in den 2040er Jahren tausende Mal klüger als die menschliche Rasse sein. Der Wissenschaftsautor David Levy geht davon aus, dass sich in der Mitte des 21. Jahrhunderts Roboter wie Menschen benehmen werden. Dann würden Menschen auch Robotern gegenüber Gefühle empfinden, sich in sie verlieben und mit ihnen Sex haben...

Viele Transhumanisten sehen durchaus auch Gefahren in den von ihnen prognostizierten Entwicklungen. Beispielsweise könnten mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Maschinen die Weltherrschaft übernehmen und sogar die Menschheit auslöschen. Oder Nanobots, die Moleküle zerlegen und sich selbst reproduzieren können, könnten sich verselbständigen und alles auf der Erdoberfläche zerkleinern. Würden unsterblich gewordene Menschen weiter Kinder zeugen, würde die Weltbevölkerung noch schneller wachsen, wären die Ressourcen der Erde bald verbraucht. Auch könnte es sein, dass technisch verbesserte "Super-Menschen" (in reichen Ländern) "normale" Menschen (im eigenen oder in ärmeren Ländern) als "minderwertig" betrachten und unterdrücken werden.

Schließlich stellen sich die Fragen: Ab wann ist ein Mensch kein Mensch mehr? Ab wann ist er eine Maschine? Beziehungsweise ab wann ist er ein Halbgott?

Literatur

David Gelles: Immortality 2.0. The Futurist January-February 2009, S. 34-41