Familiensystem

Martin R. Textor

 

Die meisten amerikanischen Familientherapeuten konzeptualisieren die Familie als ein System, d.h. als einen Komplex von mehreren größeren oder kleineren Einzelteilen (Individuen, Subsysteme). Diese sind voneinander unabhängig, interagieren aber miteinander. Durch die Einbettung in das System werden die Subsysteme miteinander verbunden und vereinigt. Jedes Familiensystem besitzt eine charakteristische Struktur (Hierarchie), einen Zweck (Funktionen, Familienwerte) und spezifische Gesetze (Regeln, Mythen). Die Beziehungen zwischen seinen Komponenten sind relativ genau und umfassend definiert (Interaktionsmuster, Verträge, Rollenerwartungen) sowie durch bestimmte Prozesse (Verhalten, Kommunikation, Projektion, Austausch von materiellen Gütern) und Riten (Feiern, Familiensitten) gekennzeichnet. Man kann von verschiedenen Schichten im Familiensystem sprechen, je nachdem, ob die Strukturen und Vorgänge beobachtbar oder erschließbar, bewusst, vorbewusst oder unbewusst sind.

Ein System besitzt folgende konstitutive Merkmale:

  1. Jedes System (Familie) ist sowohl ein aus mehreren Subsystemen (Ehe-, Eltern-Kind-, Geschwistersystem, Individuum) bestehendes Ganzes als auch ein Teil größerer Systeme (erweiterte Familie, Netzwerk, Gemeinde, Wirtschaftssystem, Gesellschaft). Es strebt immer nach Bewahrung seiner Ganzheit, indem es einerseits seine Bestandteile integriert und zu einer Einheit verknüpft, andererseits sich von den größeren Systemen abgrenzt und relativ autonom ist. So können die einzelnen Subsysteme nicht unabhängig von den Systemen und unabhängig voneinander analysiert und verstanden werden, da sie miteinander verbunden sind: „The component parts contribute to the whole and the whole contributes to the component parts“ (Whitaker u. Keith 1981, S. 192).
  2. Alle Bestandteile eines Systems (Familie) sind interdependent und interagieren miteinander. Ein Ereignis in irgendeinem Subsystem (Ehebeziehung), eine Veränderung desselben oder ein von ihm initiierter Prozess hat Auswirkungen auf alle anderen Subsysteme (Eltern-Kind-, Geschwistersystem, Individuum) und auf das Gesamtsystem. Gleichermaßen beeinflussen Vorgänge im System alle Subsysteme, während ersteres durch Ereignisse in größeren Systemen (erweiterte Familie, Netzwerk, Schule, Fabrik) verändert wird. So schreiben Glick u. Kessler (1974) bezüglich des Familiensystems: „A ripple set up anywhere internally or externally that impinges on the family will reverberate throughout“ (S. 12). Dabei ist die Wirkung umso stärker, je größer die Integration des jeweiligen Subsystems ist. Hierzu meint Meissner (1966): „The family members are involved in the family emotional system in varying degrees, and the degree to which disruption in the system affects the involved members is related directly to the degree of involvement“ (S. 154).
  3. Wegen der wechselseitigen Abhängigkeit aller Systeme und Subsysteme hat jedes Ereignis eine Vielzahl von Auswirkungen. So schreibt Pittman III (1973): „A change in an individual, whether that change is abrupt and accidental or a necessary and anticipated development in the life history of the individual, necessarily produces changes in other family members, and those changes produce further changes“ (S. 106). Da eine Veränderung im Individuum aber auch auf eine Ereigniskette zurückgeführt werden kann und die Veränderungen zumeist wechselseitig sind (d.h. eine Veränderung im zweiten Familienmitglied erzeugt wiederum Veränderungen im ersten – aber auch in einem dritten usw.), ist letztendlich eine Unterscheidung von Ursache und Wirkung oder Reiz und Reaktion nicht möglich. So sind bei Systemprozessen die Markierungen von Anfang und Ende willkürlich. Ja selbst bei gleichen Ursprungsbedingungen kann sich ein System aufgrund der unterschiedlichen gegenseitigen Beeinflussung seiner Komponenten bzw. aufgrund der in ihm oder zwischen ihm und größeren Systemen ablaufenden Prozesse unterschiedlich entwickeln (Betonung gegenwärtiger Parameter). Dieses Charakteristikum von Systemen wird als Äquifinalität bezeichnet: „The concept of equifinality is fundamental; similar 'causes' need not produce similar 'results', and similar 'results' may well be the product of dissimilar 'causes'. A minimal change in one part of the system can, by circular processes that amplify deviation, produce a considerable change in the total system“ (Klagsbrun u. Davis 1977, S. 156).
  4. Die meisten Prozesse im Familiensystem wiederholen sich und sind somit voraussagbar. Sehr viele Interaktionen laufen automatisch und reflexhaft ab. So besteht eine gewisse Ordnung, Geschlossenheit und Regelmäßigkeit in den Beziehungen der Subsysteme: Sie wirken auf eine organisierte, strukturierte und kontinuierliche Art und Weise zusammen. Diese Ordnung und Konstanz wird durch eingeschliffene Interaktionsmuster, Beziehungsdefinitionen, Regeln, Verträge, Mythen, Rollenerwartungen, Einstellungen und die festgeschriebene Verteilung bestimmter Rechte und Pflichten aufrechterhalten (Satir 1967, 1972; Bowen 1978).
  5. Alle Beziehungen in einem Familiensystem sind hinsichtlich der Art und Intensität von Gefühlen (Warkentin: „feeling temperature“), des Austausches von Gütern, der Befriedigung von Bedürfnissen, der Aufteilung von Aufgaben usw. ausbalanciert: Es besteht ein Gleichgewicht (Homöostase, Äquilibrium), das durch Interaktionsmuster, Gewohnheiten u.ä. aufrechterhalten wird. Bewegt sich in einem Subsystem ein Individuum in eine bestimmte Richtung, so erzeugt es ein Ungleichgewicht und damit Zugkraft und eventuell Bewegung in die andere Richtung. Beispielsweise kann die Ausbeutung eines Familienmitgliedes durch ein anderes so viele Konflikte hervorrufen (Disäquilibrium im interpersonalen System), dass das letztgenannte sein Verhalten ändern und das Gleichgewicht wiederherstellen muss: „...a change in the functioning of one family member is automatically followed by a compensatory change in another family member“ (Bowen 1978, S. 260).
    Natürlich besteht auch auf der Ebene des Familiensystems ein Gleichgewicht. Die Familie versucht, den Status quo zu erhalten, indem sie ihren Mitgliedern nur bestimmte Verhaltensweisen erlaubt und die Bandbreite für Abweichungen festlegt (Jackson: Familie als „rule-governed system“). Jedes Subsystem wirkt wie ein „Regler“ (Haley), der das Verhalten der anderen überwacht und kontrolliert (vergleichbar mit einem Heizungsthermostat). Hält ein Teil bestimmte Sollwerte (Normen, Beziehungsdefinitionen, Regeln usw.) nicht ein, so aktiviert es entsprechend dem „ersten Beziehungsgesetz“ (Haley) die anderen Subsysteme, die dann bestimmte Gegenmaßnahmen in die Wege leiten.
    Die Homöostase wird allerdings nicht nur von innen, sondern auch von außen bedroht. Die Familie kann nämlich das Äquilibrium nur aufrechterhalten, wenn sowohl in ihren Subsystemen als auch in den größeren Systemen ein Gleichgewicht herrscht (Interdependenz). So registriert sie Veränderungen ihrer Umwelt, verarbeitet diese Informationen, leitet sie an ihre Subsysteme weiter und setzt zusammen mit diesen Regelungsmechanismen in Gang.
    Dementsprechend kann man die Familie als „error-activated“ (Jackson), als ein sich selbst korrigierendes System bezeichnen. Die zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Homöostase eingesetzten Steuerungsmechanismen (Manöver, Verstärkungen, Rollenzuschreibungen etc.) werden als negative Rückkoppelung Hier wird durch bestimmte Gegenmaßnahmen die Abweichung von dem Sollzustand rückgängig gemacht und auf diese Weise die Familie stabilisiert („konservative“ Mechanismen). Jedoch kann die negative Rückkoppelung das System auch zerstören und funktionsunfähig machen, indem sie z.B. die Familienstrukturen und -prozesse erstarren lässt. Auf diese Weise werden notwendige Anpassungsmaßnahmen unmöglich gemacht. Bei der positiven Rückkoppelung wird die Abweichung von der Norm verstärkt (Hoffmann: „deviation-amplifying“ Mechanismen), so dass die Homöostase verloren geht und zu ihrer Wiederherstellung Organisationsformen, Interaktionsmuster, Verhaltensweisen, Regeln usw. modifiziert werden müssen. Tritt die positive Rückkoppelung jedoch im Übermaß auf, so kann auch hierdurch das Familiensystem funktionsunfähig werden und sogar zerfallen, da Stabilität, Konstanz und Kontinuität Voraussetzungen für ein effektives Funktionieren sind. Jede Familie steht also vor dem Problem, ob (wann, in welchem Ausmaß, wie oft usw.) sie auf neue Gegebenheiten bzw. auf von innen oder außen kommende Veränderungsbestrebungen mit negativer oder mit positiver Rückkoppelung reagieren soll: „The dilemma facing any system is the conflict between complexity (involving growth and, hence, flexibility) and integrality and the need to compromise between these two in order to survive (...)“, (Klagsbrun u. Davis 1977, S. 156). Einige Familien versuchen zuerst einmal, Veränderungsbestrebungen zu widerstehen, und neutralisieren sie oft auf diese Weise. Sie besitzen also ein relativ starres Äquilibrium. Andere Familien sind flexibel und passen sich schnell an neue Gegebenheiten an. Sie erleben oft Phasen des Ungleichgewichts, müssen immer wieder das System stabilisieren. So kann man hier die Homöostase als dynamisch beschreiben. Bewirken die Selbstregulierungsprozesse eine Veränderung im Familiensystem, so kann man mit Watzlawick et al. (1974) von „first-order change“ sprechen. Muss jedoch das ganze System modifiziert werden, so wird dieses als „second-order change“ bezeichnet.
  6. Die Familie ist (wie auch alle anderen Systeme) von Grenzen Diese beruhen auf kognitiven („Wir sind anders“), emotionalen (Liebe, Zuneigung) und konativen (bestimmtes Verhalten gegenüber Außenstehenden) Prozessen und werden durch die persönliche und die Familienidentität, die Verdienstbuchführung und Familienloyalität, die Introjekte und Regeln aufrechterhalten. Die Grenzen sind normalerweise durchlässig, so dass Austauschprozesse mit anderen Systemen stattfinden können, die für die Familie lebensnotwendig sind: „The family system receives matter, information, and energy (input) from its members (subsystems) and the environment (suprasystem). It processes this input into actions (output) that ensure productive and creative growth, or, at least, the survival of the system (family) and its subsystems (family members)“ (Laqueur 1976, S. 408). Rückkoppelungsprozesse informieren dann das System. ob der Input richtig verarbeitet und auf angemessene und effektive Weise reagiert wurde.
    Familiensysteme unterscheiden sich hinsichtlich der Durchlässigkeit ihrer Grenzen: „Some families provide open avenues of transaction with the outer community. Others are closed corporations, shutting their members within and reducing to a minimum significant interchange with the outer world“ (Ackerman 1958, S. 342). Offene Familiensysteme fördern den Kontakt mit anderen Systemen, reagieren elastisch auf Einflussnahmen, haben eine flexible Homöostase und sind zur Veränderung ihrer selbst oder der Umwelt bereit. Die Mitglieder haben ein positives Weltbild, sind Fremden gegenüber tolerant, arbeiten gut zusammen und verhandeln oft über neue Regeln, Beziehungsdefinitionen, Interaktionsmuster usw. Geschlossene Familiensysteme lassen hingegen viel weniger Input und Output zu, setzen Veränderungsbestrebungen viel Widerstand entgegen und besitzen ein stabiles Gleichgewicht, eine starre Struktur und rigide Interaktionsmuster. Die Mitglieder sind wenig kontaktfreudig, sehen die Welt als gefährlich an und überwachen gegenseitig ihr Verhalten. Die Familienidentität ist durch Werte wie Beständigkeit, Gewissheit, Klarheit, Treue und Diszipliniertheit gekennzeichnet. Kantor u. Lehr (nach White 1978) unterscheiden schließlich noch ein random-type Familiensystem, in dem die Grenzen verschwommen sind, Austauschprozesse kaum reguliert werden und keine Ordnung herrscht (chaotisch, fragmentiert). Die Mitglieder richten sich an Werten wie Spontaneität (Gegenwartsorientiertheit), Wahlfreiheit, Originalität und Individualität aus. Diese Unterscheidung beinhaltet übrigens keine Wertung, da alle 3 Familientypen funktionsfähig sein können.
    Auch die größeren Subsysteme innerhalb der Familie sind von Grenzen umgeben, während die einzelnen Familienmitglieder sowohl ein bestimmtes Territorium in der Wohnung beanspruchen als auch einen persönlichen Raum mit sich „herumtragen“. Letzterer ist je nach Alter, Geschlecht, Kultur, Schicht und Persönlichkeitsstruktur unterschiedlich groß und zeigt sich in der Interaktionsdistanz. Die Grenzen der verschiedenen Subsysteme können mehr oder weniger gut sichtbar (gekennzeichnet), fest oder eher durchlässig sein. Sie garantieren die Selbständigkeit der Subsysteme, verhindern Konflikte und erhalten Familienstruktur, Hierarchie und Aufgabenverteilung. Für Kinder sind besonders die Grenzen zwischen den Generationen von Bedeutung. Sie bieten ihnen Sicherheit und ermöglichen ihnen die Individuation, da sie ihnen die Lösung des Ödipuskonflikts erleichtern und sie z.B. vor Parentifizierung und Ersatzpartnerschaft schützen. Die Grenzen zeigen sich zumeist in Interaktionsmustern, Beziehungsdefinitionen, Verträgen und im Familienkonzept. „Who is allowed in, when, under what conditions, for how long, on whose okay – all are programmed covertly“ (Whitaker u. Keith 1981, S. 194). Die Grenzen können jedoch auch in Verhandlungen und nonverbalen Kommunikationsprozessen verändert werden, so dass ein Subsystem im Verlauf der Zeit einmal mehr und einmal weniger Raum im System einnimmt. Jedes Familienmitglied muss sowohl persönliche und territoriale Grenzen als auch die Grenzen der Subsysteme und des Gesamtsystems beachten, wobei es leicht zu Problemen kommen kann: „There can be a great deal of confusion, for example, if A feels he is encountering B at the interpersonal or personal boundary when B feels that interaction is really taking place at the unit boundary“ (White 1978, S. 93).

Außenstehende werden selten mit der Familie als Einheit konfrontiert, sondern begegnen in der Regel nur einzelnen Subsystemen und Mitgliedern. Neben langfristig bestehenden Subsystemen (Ehe-, Eltern-Kind- und Geschwistersystem) bilden sich in der Familie aufgrund von Alters- und Geschlechtsunterschieden sowie aufgrund verschiedener Bedürfnisse, Motive, Interessen und Aufgaben auch nur kurzzeitig bestehende Subgruppen, die z.B. die Fußballfans, Bastler oder Kinogänger der Familie umfassen. Immer wieder werden solche Gruppierungen formiert, vergrößert (auch durch die Einbeziehung von Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen), verkleinert oder aufgelöst. Ein Familienmitglied beteiligt sich so an verschiedenen Subsystemen, die ihm Vereinigung und Selbstdifferenzierung, Individuation und Identitätsfindung ermöglichen. Es bildet Gefühle der Zugehörigkeit und Verschiedenheit aus und entwickelt bestimmte Eigenschaften, Fertigkeiten und Einstellungen. Zudem besitzt es in verschiedenen Subsystemen unterschiedlich viel Macht und muß sich den jeweils andersartigen Regeln über die Art und Weise seiner Teilnahme entsprechend verhalten.

Quelle

Aus: Martin R. Textor: Integrative Familientherapie. Eine systematische Darstellung der Konzepte, Hypothesen und Techniken amerikanischer Therapeuten. Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo: Springer 1985, S. 54-59 (überarbeitet, ohne Fußnoten und Literaturangaben)