Experimente am Menschen - ethische und juristische Aspekte

Martin R. Textor

 

Medizinische Versuche am Menschen sind von großer Bedeutung. So schreibt Deutsch. "Humanmedizinische Forschung tut not. Sie dient der Menschheit ebenso wie dem einzelnen Menschen. Der Nutzen für die Gesamtheit spiegelt sich wider in der Verdoppelung der Lebenserwartung, in der Reduzierung der Kindersterblichkeit, im Erlöschen der großen Epidemien, in der Kontrolle des Bevölkerungszuwachses und in der präventiven Medizin" (2, S. 13). Der Nutzen für den einzelnen zeigt sich z.B. in der Schmerzkontrolle durch Anästhesie, in der medikamentösen Bekämpfung somatischer und psychischer Krankheiten sowie in der Vielzahl routinemäßiger operativer Eingriffe.

Die Interessenlagen von Menschheit und Individuum decken sich aber nur dann, wenn letzteres einer Standardbehandlung unterzogen wird. Bei der experimentellen Erprobung neuer Medikamente oder therapeutischer Verfahren ist jedoch der Nutzen für die Versuchsperson vielfach gering - oft können sogar negative Wirkungen (einschließlich des Todesfalles) eintreten. Die gewonnenen Forschungsergebnisse mögen jedoch für die Menschheit von großer Bedeutung sein. Hier besteht also ein Interessengegensatz, da die Versuchsperson im Gegensatz zur Menschheit nur selten (später) als Patient von den medizinischen Experimenten profitiert. Daraus ergibt sich zum einen die Frage, ob der einzelne bei der geringsten potentiellen Gefährdung die Teilnahme an einem humanwissenschaftlichen Versuch ablehnen sollte oder ob er bis zu einem bestimmten Punkt moralisch verpflichtet ist, sich für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. So profitiert er ja selbst von den Ergebnissen früherer medizinischer Experimente und sollte deshalb bereit sein, im Sinne der Vorteilsausgleichung an weiterführenden Versuchen teilzunehmen und so seinen Beitrag zum medizinischen Fortschritt zu leisten.

Zum anderen ergibt sich aus dem beschriebenen Interessengegensatz die Notwendigkeit, Probanden so gut wie möglich vor den potentiellen Gefahren medizinischer Experimente zu schützen. So gibt es viele Beispiele für Versuche, bei denen Menschen zu Schaden kamen. Im 19. Jahrhundert fanden z.B. unethische Experimente in deutschen Kliniken statt, bei denen Kranke mit Syphilis- und Gonorrhöe-Erregern geimpft wurden. Während des Dritten Reiches dienten dann Konzentrationslager als Experimentierfeld für Ärzte. So wurden Versuche mit Gelbfieber, Staphylokokken, Gasbrand- und Tetanusbazillen, Typhus, Diphtherie, Fleckfieber und Kampfgiftstoffen in den Isolierblocks und Häftlingskrankenhäusern der KZ Buchenwald, Ravensbrück, Neuengamme, Natzweiler, Sachsenhausen und Hohenlychen durchgeführt. Hinzu kamen z.B. Höhendruck-, Unterkühlungs- und Sterilisationsversuche in Auschwitz und Dachau. Die meisten Experimente wurden von staatlichen, halbstaatlichen oder privaten Institutionen angeregt und fanden unter Mitarbeit renommierter Professoren und Ärzte statt (5).

Aber auch in den USA fanden ähnliche verwerfliche Humanversuche statt, von denen das "Tuskegee Syphilis Experiment" besonders berüchtigt ist. Im Zeitraum von 1932 bis 1972 wurden über 400 an Syphilis erkrankte Schwarze über die Diagnose nicht informiert und nicht medizinisch behandelt, sondern nur beobachtet. Dieses Experiment wurde von dem United States Public Health Service in Zusammenarbeit mit dem Alabama State Department of Health, dem Macon County Health Department, dem Tuskegee Institute, dem Veterans Hospital in Tuskegee und privat praktizierenden Ärzten durchgeführt und erbrachte keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse (4).

Im Jahr 1966 lenkte ferner Beecher die Aufmerksamkeit auf unethische Experimente. Er beurteilte 100 humanwissenschaftliche Untersuchungen, die 1964 in einer hervorragenden Fachzeitschrift publiziert wurden, und stellte fest, dass 12 unethisch waren. Dann nennt er 22 Beispiele für fragwürdige Versuche (1).

Ethisch problematische Humanexperimente gibt es aber auch im Bereich der Psychologie, unter denen die Untersuchungen von Milgram (6, 7) zum Autoritätsgehorsam am spektakulärsten sind. Hier wurde den Probanden vom Versuchsleiter die Aufgabe gestellt, einer anderen Person für ihr Versagen in einem Lernexperiment Stromstöße zunehmender Intensität zu erteilen. Obwohl letztere darauf zuerst mit Bitten und Jammern, dann mit Schreien und schließlich Schweigen (simulierte Bewusstlosigkeit bzw. Tod) reagierte und obwohl die Tasten für die höchsten Stromstärken mit Gefahrenhinweisen ausgestattet waren, fuhren bis zu zwei Drittel der Probanden trotz Bedenken (auf Aufforderung des Versuchsleiters) bis zur Applikation tödlicher Stromstöße fort. Es ist selbstverständlich, dass die bei diesem Experiment gemachten Erfahrungen negative Auswirkungen auf das Selbstbild der Versuchspersonen hatten sowie Gewissenskonflikte und Schuldgefühle hervorriefen.

Andere fragwürdige Experimente werden von Schuler (10) und Rauchfleisch (8) beschrieben. Probleme entstehen hier z.B. durch das große Machtgefälle und die Unterschiede im Wissen zwischen Experimentator und Versuchsperson, die Notwendigkeit, die Ziele bestimmter Experimente zu verheimlichen, um eine Verfälschung der Forschungsergebnisse zu verhindern, oder durch die großen Belastungen, denen Probanden beispielsweise in Stressuntersuchungen ausgesetzt sind.

Um eine Schädigung des körperlichen und psychischen Wohls von Versuchspersonen bei medizinischen oder psychologischen Experimenten zu verhindern, haben Juristen, Ethiker und Politiker folgende vier Regelungsmodelle (2) entwickelt:

  1. Gesetzliches Modell: Das Experimentieren am Menschen wird durch Gesetze geregelt. So kann beispielsweise der Abschluss eines bestimmten Vertrages zwischen Forschern und Versuchspersonen verlangt werden. Vorteile dieses Modells sind u.a., dass aufgrund der Weite gesetzlicher Vorschriften der Forscher nur wenig eingeschränkt wird, spontan und flexibel handeln kann. Problematisch sind hingegen die Rechtsunsicherheit, die Dürftigkeit rechtlicher Regelungen, die ungenügende Absicherung des Forschers und die Gefahr, dass Versuchspersonen vertraglich auf zu viele Rechte und Ansprüche verzichten.
  2. Modell der Dienstanweisungen: Gesetzesbestimmungen werden durch Verordnungen und Richtlinien erweitert, die z.B. von Behörden erlassen werden und deren Einhaltung durch die Androhung von Disziplinarmaßnahmen gewährleistet wird, Ein Vorteil dieses Modells ist, dass Dienstanweisungen leichter zu erlassen und zu ändern sind als Gesetze. Von Nachteil kann aber sein, dass sie nicht die gleiche Geltung wie rechtliche Vorschriften haben und oft zu wenig bekannt sind.
  3. Modell der Ausschussgenehmigung: Ethikausschüsse in Krankenhäusern oder Forschungseinrichtungen überprüfen die in ihrem Bereich geplanten Experimente anhand bestimmter Richtlinien. Vorteilhaft ist, dass jeder einzelne Versuch genehmigt werden muss und im Verlauf dieses Verfahrens potentielle rechtliche und ethische Probleme rechtzeitig erkannt werden. Von Nachteil kann sein, dass die Ethikausschüsse mit unterschiedlicher Strenge urteilen und zu verschiedenen Entscheidungen kommen mögen.
  4. Modell der Ethikausschüsse in Verbänden, Forschungsorganisationen und Behörden mit rein beraterischer Funktion: Vorteilhaft ist, dass ethische Probleme frühzeitig erkannt, bewusst gemacht und dokumentiert werden können. Die Beratungsergebnisse lassen sich auch als Grundlage für Gesetze, Dienstanweisungen und Verbandsrichtlinien verwenden. Ein Nachteil dieses Modells ist jedoch, dass die Ausschussmitglieder wenig Macht besitzen und nicht durchsetzen können, dass Forscher ihre Empfehlungen beachten.

Seit dem Bundesärztetag im Mai 1988 ist es Pflicht, bei medizinischen Experimenten jeder Art eine Ethikkommission anzurufen. Ansonsten gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nur in Arzneimittelgesetz eine eindeutige Regelung bezüglich der Arzneimittelprüfung im Rahmen von Humanexperimenten, für die es auch eine obligatorische Versicherungspflicht gibt. So beziehen sich die folgenden Ausführungen nur auf psychologische und medizinische (nicht-pharmakologische) Versuche. Im allgemeinen Arztrecht gibt es hingegen kaum Bestimmungen über Humanexperimente. So muss zumeist auf die allgemeineren rechtlichen Vorschriften des Strafrechts und Privatrechts zurückgegriffen werden.

Das Strafrecht regelt, welche Verhaltensweisen in der Bundesrepublik Deutschland verboten sind und welche Strafen bei verbotswidrigem Verhalten drohen. Diese Gesetzesbestimmungen sind dann von Bedeutung, wenn es im Verlauf medizinischer oder psychologischer Experimente zum Tatbestand der Körperverletzung oder des Todesfalles kommt. In diesen Fällen wird der Versuchsleiter haftbar gemacht. Dabei wird die Arzthaftung entweder an das Verbot der Körperverletzung oder des fahrlässig-gefährlichen Umgangs mit einer Person angebunden (allgemeines Haftungsrecht). Beide Koppelungsansätze vernachlässigen aber laut Deutsch (2, S. 5) "den altruistischen und individuell-humanitären Aspekt der ärztlichen Tätigkeit". Zudem eignen sie sich schlecht für die Beurteilung von Heilversuchen, da hier der Begriff der Fahrlässigkeit so modifiziert werden muss, dass nicht schon der Versuch als Abweichung von der Standardbehandlung haftbar macht. Das gilt erst recht für das Experiment, da dieses zunächst für das Individuum nicht förderlich ist. Problematisch ist ferner die Bewertung von durch (psychologische) Versuche hervorgerufenen psychischen Störungen, Symptomen oder Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens. Ähnliches gilt für Gesundheitsbeschädigungen, die bei Mitgliedern von Kontrollgruppen auftreten, weil bei ihnen für bestimmte Zeit eine Behandlung unterblieb oder der Heilungsprozess verlängert wurde. Strafrechtlich problematisch sind auch Experimente mit Sterbenden, da auch sie ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben. Anzumerken ist noch, dass neben dem Tatbestand der Körperverletzung oder des Todesfalles auch derjenige der Nötigung strafrechtlich relevant ist. Er tritt ein, wenn der Versuchsleiter abhängige Personen zur Teilnahme an Experimenten zwingt oder ihnen eine nachteilige Konsequenz für den Fall der Weigerung androht.

Das Privatrecht regelt die Beziehungen der Bürger untereinander. Diese gesetzlichen Bestimmungen sind von Bedeutung, da bei Humanexperimenten im Normalfall von einem rechtlichen Vertrag zwischen Forscher und Versuchsperson auszugehen ist. So werden auf der Seite des Probanden eine Vielzahl von Rechtsgütern wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Selbstbestimmung und Privatsphäre berührt. Zudem stellt er bestimmte Erwartungen an den Versuchsleiter (Fürsorge, Sicherheit, Haftung usw.). Auf der Seite des Forschers werden berufliche und geschäftliche Interessen wahrgenommen. Vielfach zahlt er auch dem Probanden ein Entgelt.

Aus dem Vertragscharakter der Beziehung zwischen Versuchsleiter und Proband folgen bestimmte Rechte und Pflichten. So gilt für die Seite der Versuchsperson:

  1. Sie erklärt sich bereit, an dem Experiment teilzunehmen und die ihr aufgetragenen Aufgaben sorgfältig und gewissenhaft auszuführen.
  2. Sie hat sich den Anordnungen des Versuchsleiters zu unterwerfen, solange dieser den Vertragsbestimmungen folgt.
  3. Sie hat das Recht, jederzeit aus dem Versuch auszuscheiden.
  4. Sie kann verlangen, dass ihre Anonymität gewahrt wird, dass ihr bei unfahrlässig schlechtem Ausgang des Experiments eine Kompensation gezahlt wird und dass bei einer fahrlässigen Durchführung Ersatz zu leisten ist.

Vertragspflichten des Versuchsleiters sind:

  1. Er muss den Probanden über das geplante Experiment und die damit verbundenen Risiken gewissenhaft aufklären. Dabei hat er darauf zu achten, dass die Versuchsperson die Maßnahmen und Gefahren versteht, bevor sie ihre Einwilligung zur Teilnahme am Versuch gibt.
  2. Er muss bei der Durchführung des Experiments sorgfältig vorgehen. So müssen die Zulässigkeitsvoraussetzungen die ganze Zeit erfüllt und Schäden vom Probanden abgewendet werden.
  3. Er besitzt eine Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber der Versuchsperson, die sich ihm vertrauensvoll zur Verfügung stellt. So hat er deren Rechtsgüter zu wahren und für ein angemessenes Verhältnis zwischen möglichen Vor- und Nachteilen bei einer Teilnahme am Versuch zu sorgen.
  4. Er muss das vereinbarte Entgelt zahlen.
  5. Er haftet bei unzulässigen Versuchen und bei Fahrlässigkeit.

Schließlich ist noch zu beachten, dass Forscher nicht nur in Wahrnehmung ihrer Berufsausübungsfreiheit handeln. Vielmehr befinden sie sich auch in dem durch das Grundgesetz garantierten Freiraum von Wissenschaft und Forschung, der nur durch die Grundrechte anderer Menschen begrenzt wird.

Überblickt man nun die dargestellten straf- und privatrechtlichen Bestimmungen, so ist festzustellen, dass speziell auf medizinische und psychologische Experimente bezogene Gesetze fehlen. Immer werden Bestimmungen, die sich auf andere Tatbestände beziehen, auf Versuche übertragen, wobei oft juristische Hilfskonstruktionen geschaffen werden. So bleibt das Gefühl rechtlichen Ungenügens. Auf lange Sicht werden wir mit Sicherheit nicht daran vorbeikommen, Gesetzesbestimmungen für die biomedizinische und psychologische Forschung zu entwickeln. Dabei ist jedoch zu beachten, dass bei einer zu starken Reglementierung Forschungsvorhaben in Entwicklungsländer verlagert, Heilversuche und Experimente in die Behandlung versteckt oder Patienten zwangsläufig als Versuchsobjekte benutzt werden, wenn eine experimentelle Klärung der Wirksamkeit eines Verfahrens oder Medikamentes noch nicht erfolgte. Hier muss der Gesetzgeber den "goldenen Mittelweg" suchen.

Ethische Regeln sind zumeist umfassender und ungenauer als rechtliche Bestimmungen -letztere sollen im Normalfall ja nur das moralische Minimum verkörpern. Bezüglich der Humanexperimente werden Richtlinien für das Handeln des Arztes oder Psychologen zumeist von althergebrachten moralischen Werten und allgemeinen ethischen Prinzipien abgeleitet - z.B. von durch die Vernunft gewonnenen Regeln wie dem kategorischen Imperativ, von natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, kirchlichen Geboten oder individuellen Gewissensäußerungen. Unabhängig von der Art der Gewinnung werden aber immer wieder folgende Prinzipien betont:

  1. Der Proband hat ein Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit. Bei Heilversuchen ist ihm generell ein größeres Risiko als bei Experimenten zuzumuten.
  2. Der Versuch muss wirklich für das Wohl der Menschen notwendig sein. Er ist wissenschaftlich zu begründen und nach den Regeln der Wissenschaft von kompetenten Forschern durchzuführen.
  3. Es sind möglichst nur solche Versuchspersonen auszuwählen, die sich mit dem Experiment identifizieren, zu einer Teilnahme motiviert sind und ein persönliches Interesse an der Gewinnung der Forschungsergebnisse haben (z.B. Kranke, Psychologiestudenten, Ärzte).
  4. Die Probanden haben das Recht, offen über den Versuch informiert zu werden sowie die Wahrheit über ihren Zustand (z.B. Heilungschancen) und die Risiken zu erfahren. Sie sollten die Situation verstehen und sich unter Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung in einer Willenserklärung für die Teilnahme entscheiden.
  5. Obwohl der Forscher auch bei Humanexperimenten distanziert und rational sein muss, hat er die gesundheitlichen Interessen der Versuchsperson zu wahren und sie vor physischen und psychischen Beeinträchtigungen zu schützen. Ärzte sind weiterhin an den Eid des Hippokrates gebunden, müssen die Vertraulichkeit ihrer Beziehung zu den Patienten schützen und in erster Linie ihre Heilung anstreben.
  6. Personenbezogene Daten müssen unter allen Umständen vor dem Zugriff durch Dritte geschützt werden. Auch Fallbeispiele dürfen eine Identifizierung der Patienten nicht zulassen.

Die Problematik dieser Regeln kann an einigen Beispielen deutlich gemacht werden. So können Probanden bei Blindversuchen, Doppelblindversuchen oder bei der Verwendung von Placebos nicht über Art und Umfang des Experiments informiert werden. Das gilt auch für Fälle, wo sich Patienten aus der Kenntnis heraus, dass sie Versuchspersonen sind, unüblich verhalten oder den Forscher täuschen könnten. Wenn der Versuchsleiter die Probanden nicht über den Versuch informieren kann, muss er sich besonders bemühen, ihre Interessen zu wahren und sie aus seiner Sorgfalts- und Fürsorgepflicht heraus vor möglichen Gefahren zu schützen.

Ein anderes ethisches Problem liegt darin, ob man die Schädigung einer geringen Zahl von Menschen im Experiment hinnehmen soll, wenn einer sehr viel größeren Anzahl durch die Forschungsergebnisse geholfen werden kann. Bei Röntgenreihenuntersuchungen wird z.B. dieses Risiko bewusst in Kauf genommen, da ein sehr kleiner Prozentsatz der Untersuchten aufgrund der Bestrahlung an Brustkrebs oder Leukämie erkrankt. Dennoch ist der Nutzen größer als der Schaden. Bei Experimenten sind außerdem die aufgetretenen Beeinträchtigungen der Gesundheit zumeist geringer als die, welche z.B. Zigarettenraucher bewusst auf sich nehmen (2, S. 68, 162). Vereinzelt treten auch Situationen auf. in denen die genannten ethischen Prinzipien durch andere abgeschwächt werden. So ist z.B. bei plötzlich auftretenden Epidemien dem einzelnen in Versuchen ein höheres Risiko zuzumuten als unter anderen Umständen (Opfergedanke).

Abschließend ist noch auf die Problematik von Experimenten an Sondergruppen wie Strafgefangenen, Studenten, Krankenschwestern, Bewusstlosen, Sterbenden, Geisteskranken oder Kindern hinzuweisen. Hier besitzt der Versuchsleiter besonders viel Macht, da er entweder das Abhängigkeitsverhältnis bzw. die missliche Lage dieser Personen ausnutzen und unterschwellig Druck ausüben kann oder weil diese Menschen mehr oder weniger unfähig sind, den Sinn des Versuches zu erfassen, die Risiken abzuschätzen und sich bewusst für eine Teilnahme zu entscheiden. So sollten Experimente mit diesen Populationen nur dann durchgeführt werden, wenn (bei Abhängigkeitsverhältnissen) die Einwilligung der Versuchsperson von Dritten eingeholt wurde, wenn (bei Unmündigkeit) Verwandte, Vormünder oder unabhängige Kommissionen ihre Zustimmung erteilt haben und wenn die Versuche zum Besten der Probanden sind. (Nach dem Arzneimittelgesetz sind übrigens keine Experimente an Strafgefangenen und geistig Behinderten erlaubt.)

Ein ethisches Verhalten bei Humanexperimenten kann nicht erzwungen, Verstöße gegen moralische Prinzipien können nicht wie Gesetzesübertretungen mit Strafen geahndet werden. Dennoch kann ein ethisches Verhalten in den meisten Fällen gewährleistet werden, wenn Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kollegen oder Mitglieder von Ethikkommissionen rechtzeitig auf mögliche Vorstöße gegen ethische Regeln hinweisen und unmoralische Verhaltensweisen kritisieren. Auch können Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften die Publikation von auf unethische Weise gewonnenen Forschungsergebnissen verweigern. Die größte abschreckende Wirkung dürften jedoch negative Reaktionen der Öffentlichkeit und der Medien haben.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass medizinische und psychologische Experimente in manchen Fällen mit Risiken für das physische und psychische Wohl der Versuchspersonen verknüpft sind. Gesetzesbestimmungen und ethische Prinzipien verhindern wohl zumeist eine Schädigung der Probanden, regeln aber den Bereich der Humanexperimente noch nicht auf zufriedenstellende Weise.

Quelle

Aus: MMG Medizin Mensch Gesellschaft 1989, 14, S. 208-213

Literatur

Beecher, H.K.: Ethics and clinical research. New Engl. J. Med. 274 (1966) 1354

Deutsch, E.: Das Recht der klinischen Forschung am Menschen. Zulässigkeit und Folgen der Versuche am Menschen dargestellt im Vergleich zu dem amerikanischen Beispiel und den internationalen Regelungen. Lang. Frankfurt/M., Bern, Las Vegas 1979

Eberbach, W.H.: Die zivilrechtliche Beurteilung der Humanforschung. Lang. Frankfurt/M., Berg l982

Jones, J.H.: Bad Blood. The Tuskegee Syphilis Experiment. Free Press. New York 1981

Kogon, E.: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager. 11. Aufl. Kindler, München 1983

Milgram, S.: Behavioral study of obedience. J. abnorm. soc. Psychol. 67 (1963) 371

Milgram, S.: Some conditions of obedience and disobedience to authority. Human Relations 18 (1965) 57

Rauchfleisch, U.: Nach bestem Wissen und Gewissen. Die ethische Verantwortung in Psychologie und Psychotherapie. Verlag für Medizinische Psychologie, Göttingen 1982

Schimikowski, P.: Experiment am Menschen. Zur strafrechtlichen Problematik des Humanexperiments. Enke, Stuttgart 1980

Schuler, H.: Ethische Probleme psychologischer Forschung. Verlag für Psychologie Dr. C.J. Hogrefe, Göttingen. Toronto, Zürich 1980