Veränderte Kindheit - gefährdete Kindheit

Martin R. Textor

 

Immer wieder wird uns bewusst, dass wir in einer modernen Gesellschaft leben, die durch rasanten Wandel, technologischen Fortschritt sowie zunehmende Ausdifferenzierung und Komplexität gekennzeichnet ist. Markante Entwicklungsprozesse werden von uns oft sehr spät wahrgenommen, überrollen uns einfach. In diese immer schwerer zu verstehende und zu "beherrschende" Welt wurden unsere Schüler hineingeboren. Wir sollen sie darauf vorbereiten, in wenigen Jahren an der Gestaltung unserer Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie, Kultur und Politik mitzuwirken.

Je älter wir sind, umso deutlicher ist uns bewusst, dass sich die heutige Kindheit stark von der selbst erlebten Kindheit unterscheidet. Lassen wir die einzelnen Schülerjahrgänge vor unserem geistigen Auge Revue passieren, wird offenbar, dass die Veränderungsprozesse immer tiefgreifender wurden, dass sie fortdauern und immer schneller werden. Neue Phänomene erkennen wir oft erst spät. Immer wieder erfahren wir, wie wenig wir wirklich über die uns anvertrauten Schüler wissen, über ihre Kindheit, ihr Familienleben, ihre Gedanken, Gefühle, Träume, Erlebnisse und Probleme.

"Harte" Fakten über Familie und Kindheit heute sind uns zumeist bekannt. Wir wissen beispielsweise, dass

(Bendit, Gaiser und Nissen, 1992; Textor, 1993, 1994).

Weniger wissen wir aber darüber, wie Kinder diese Lebensverhältnisse subjektiv verarbeiten. So hat z. B. die Scheidungsforschung gezeigt, dass das Auseinanderbrechen einer Familie - insbesondere wenn ihm eine lange Phase der Ehekonflikte vorausgeht und wenn der Kontakt zu einem Elternteil abbricht oder negativ wird - ein Kind jahrelang psychisch beschäftigt, zu Verhaltensauffälligkeiten führen und oft noch ein oder zwei Jahrzehnte später Auswirkungen zeigen kann (Textor, 1991).

Familienkindheit

Die Familie gibt es nicht: Wie bereits angedeutet, müssen wir von der Pluralisierung und Individualisierung familialer Lebensformen ausgehen. So wachsen unsere Schüler in Mehrkinder-, Einzelkind-, Teil-, Stief-, Dreigenerationen-, Adoptiv- und Pflegefamilien, in nichtehelichen Lebens- und Wohngemeinschaften auf. Weitere Unterschiede resultieren daraus, wie Familienstruktur, Arbeitsteilung, Rollenausübung, Netzwerkkontakte usw. gestaltet werden, in was für einem Soziotop (z. B. Dorf, Streusiedlung, Vorort, Innenstadtbezirk) die jeweilige Familie lebt, wie ihr sozioökonomischer Status ist oder ob sie einer Minderheit (z. B. Türken) angehört. Während früher einige dieser Familienformen hinsichtlich ihrer Entwicklungsbedingungen für Kinder negativ beurteilt wurden, können wir heute aufgrund neuer Forschungsergebnisse davon ausgehen, dass sie alle besondere Stärken und Schwächen haben. Hinsichtlich der Erziehungsleistung sind nicht so sehr die verschiedenen Familienformen von Bedeutung, sondern vielmehr das Verhalten, die Persönlichkeit und der Erziehungsstil der Eltern sowie die in jeder Familie einzigartigen Familienstrukturen und -prozesse.

Im Verlauf der letzten 150 Jahre sind Kinder bei den meisten Familien in den Mittelpunkt gerückt. Zum einen kommt ihnen heute ein großer Stellenwert als Sinnstifter, Liebesobjekt, Quelle des Glücks und Gesprächspartner zu. Zum anderen wird ihrer Erziehung immer mehr Zeit, Energie und auch Geld (für Nachhilfeunterricht, für den Besuch von Musikschulen, Sportvereinen, Ballettkursen usw.) gewidmet - auch weil die Erwartungen der Gesellschaft an die Familienerziehung gestiegen sind, insbesondere hinsichtlich der Förderung kognitiver und schulischer Leistungen. Die Eltern stellen an sich selbst hohe Ansprüche und denken viel über Erziehung sowie die schulische! berufliche Zukunft ihrer Kinder nach.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass wir es heute häufiger mit verwöhnten und überbehüteten Kindern zu tun haben, denen daheim die meisten Wünsche erfüllt werden und die auch in der Schulklasse im Mittelpunkt stehen wollen. Oft sind es aber auch überforderte Kinder, deren Kindheit ab ihrem zweiten oder dritten Lebensjahr "pädagogisiert" wurde, mit festen Förderprogrammen (Mutter-Kind-Gruppe, entwicklungsfördernde Spiele, Computerschulung, Musikunterricht usw.). Ihre Zeit ist verplant; es bleibt wenig Raum für Eigentätigkeit und Spiel.

Manche Kinder werden aber auch (emotional) vernachlässigt. Ihre Eltern bzw. alleinerziehenden Elternteile sind voll erwerbstätig, gehen vor allem eigenen Interessen nach oder werden von bestimmten Problemen (Ehekonflikten, Trennung, Alkoholismus, psychischen Störungen, Arbeitslosigkeit, Versorgung behinderter oder pflegebedürftiger Familienmitglieder) voll in Anspruch genommen. Die Kinder "laufen nebenher" oder werden werktags die meiste Zeit außerfamiliär betreut (Krippe, Ganztagskindergarten, Hort, Tagesmutter). Manche Eltern können auch nichts mehr mit ihren Kindern "anfangen", da sie in ihrer Biographie kaum Erfahrungen im Umgang mit Kindern gesammelt haben und nun von der Erziehung ihrer eigenen Kinder schlichtweg überfordert sind.

Aber nicht nur die letztgenannte Elterngruppe kommt mit der Erziehung ihrer Kinder nicht zurecht - für viele Eltern ist Erziehung "ein schwieriges Geschäft" (Dietrich, 1985). Sie fühlen sich durch die hohen gesellschaftlichen Erwartungen überfordert, sind durch die Vielzahl der von den Medien propagierten Erziehungstheorien und -rezepte verwirrt, wollen sich nicht an der selbst erlebten Erziehung orientieren oder haben in ihrem Bekanntenkreis keine Ehepaare, deren Erziehungsverhalten sie für vorbildlich halten. Aufgrund der Individualisierung der Biographien, der Entstandardisierung der Lebensmuster, des Wertepluralismus und des rasanten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Wandels wissen sie nicht, wozu sie ihre Kinder erziehen sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass Eltern heute mehr Problembewusstsein haben und somit den eigenen Erziehungsbemühungen kritischer gegenüberstehen als früher. Zudem fühlen sie sich oft durch Experten wie Lehrer oder Erzieherinnen abqualifiziert. Schließlich fällt die erzieherische Umwelt weitgehend aus, werden Eltern durch "öffentliche Miterzieher" zu wenig unterstützt. So erleben sich viele Eltern als "Einzelkämpfer".

Bei manchen Eltern, die häufig eine bestimmte Erziehungstheorie verinnerlicht haben, ist aber auch ein pädagogischer "Machbarkeitswahn" festzustellen: Sie wollen ein perfektes Kind -und sei es auch nur, um selbst als erfolgreiche Eltern dazustehen und daraus positive Selbstwertgefühle zu gewinnen. So suchen sie beispielsweise fortwährend nach Motiven hinter dem Verhalten ihrer Kinder und versuchen, diese zu beeinflussen (psychoanalytischer Ansatz). Oder sie versuchen, deren Verhalten durch positive und negative Verstärkung zu steuern (lerntheoretischer Ansatz). Arbeiten sie mit Liebeszufuhr und Liebesentzug, so machen die Kinder die Erfahrung, dass sie nicht um ihrer selbst willen geliebt werden, sondern nur um ihrer Taten wegen.

Die zum Teil schon skizzierten negativen Entwicklungsbedingungen in Familien tragen entscheidend dazu bei, dass viele Kinder Verhaltens-, psychische oder soziale Auffälligkeiten entwickeln. Hinzu kommen oft pathogene Faktoren, die aus symbiotischen Eltern-Kind-Beziehungen, der Ablehnung eines Kindes aufgrund bestimmter Charakteristika (z.B. Aussehen, Intelligenz, Behinderung), der Projektion bestimmter Triebimpulse oder der Zuschreibung von Rollen (Sündenbock, Ersatzpartner, Störenfried) resultieren. Dazu gehören ferner Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch, chronische Disharmonie in der Familie, Verlust eines Elternteils durch Tod oder Scheidung usw. Laut den Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/ psychosomatischen Bereich vom 11.11.1988 können wir davon ausgehen, dass 16 bis 18% unserer Schüler aufgrund dieser oder anderer Faktoren so verhaltensauffällig geworden sind, dass sie einer Behandlung bedürfen. Rund 5% würden sogar eine psychiatrische Therapie benötigen.

Freizeitkindheit

Unsere Schüler haben noch viel Freizeit - und verbringen diese auf höchst unterschiedliche Weise. Obwohl Dörfer zunehmend zugebaut werden, Freiflächen und ungenutzte Grundstücke in Städten immer seltener werden, der Straßenverkehr gefährlich ist und Spielplätze in der Regel wenig attraktiv sind (vor allem für ältere Kinder), verbringen Schüler noch einen großen Teil ihrer Freizeit draußen, in Gärten und Hinterhöfen. Vor allem für Jungen aus unteren sozialen Schichten spielt die Straße weiterhin als Lernort eine Rolle. Auch können die meisten nachmittäglichen Freizeitziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreicht werden; nur jüngere Kinder aus der oberen Mittelschicht, die in Wohndörfern wohnen, sind öfters auf den Transport durch ihre Eltern angewiesen (Nissen, 1993). Die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder draußen sind aber heute beschränkter als früher: Ein "Stromern" im Gelände, ein Erforschen der natürlichen Umwelt, Gruppenspiele auf der Straße sind kaum noch möglich, Gelegenheiten zur körperlichen Selbsterfahrung und Eigentätigkeit sind selten geworden.

Eine große Rolle spielen aber auch institutionalisierte Freizeitangebote - die Mehrzahl der Schüler nimmt ein oder zwei dieser Angebote in Anspruch. Mädchen nutzen häufiger, Kinder auf dem Land (wegen fehlender Einrichtungen) seltener diese Möglichkeiten. Kinder aus der oberen Mittelschicht (insbesondere aus Städten oder weiblichen Geschlechts) können zudem kostspielige Freizeitangebote (Mal- und Töpferkurse, Musik- und Ballettunterricht, Sprachschule, Sportverein) in Anspruch nehmen (Nissen, 1993). Damit - aber auch durch die zunehmenden außerschulischen Kinderbetreuungsangebote - wird Kindheit immer mehr institutionalisiert. Die Schüler konsumieren von Erwachsenen entwickelte Freizeitprogramme und müssen sich entsprechend bestimmter Vorgaben verhalten.

Ein großer Teil der Freizeit wird aber auch zu Hause verbracht oft in mit Fernseher, Stereoanlage und Computer ausgestatteten Kinderzimmern. Kindheit ist zur Medienkindheit geworden: Laut der GFK-Zuschauerforschung betrug 1992 z.B. die tägliche Fernsehdauer der 6- bis 13-Jährigen in Westdeutschland durchschnittlich 97 Minuten und in Ostdeutschland 124 Minuten (Horn, 1993). Fernsehen gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen unserer Schüler, die vor allem Zeichentrickfilme, Actionprogramme, lustige Filme, Stummfilme und Tiersendungen bevorzugen - mehr als z.B. Kindersendungen (a.a.O.). Vielseher entwickeln oft Konzentrationsstörungen und üben Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster ein, die für das schulische Lernen ungünstig sind. Werden häufig gewalttätige Filme angeschaut, so kann dies zu gesteigerter Aggressivität führen, insbesondere wenn ein solches Verhalten Persönlichkeitscharakteristika entspricht oder vom sozialen Umfeld gefördert wird. Das Fernsehen und andere Medien führen wohl sehr schnell in die Erwachsenenwelt ein, vermitteln aber ein Bild von mitmenschlichen Beziehungen, Geschlechtsrollen, gesellschaftlichen Gegebenheiten usw., das nur zum Teil der Realität entspricht. Ein großer Medienkonsum kann auch zu Passivität, mangelnder Ausbildung von Grob- und Feinmotorik sowie unzureichenden sozialen Fertigkeiten führen.

Konsequenzen für die Schule

Kindheit ist natürlich auch Schulkindheit. Unsere Schüler verbringen einen Großteil des Tages in der Schule. Gerade als Grundschullehrer haben wir viel Einfluss auf die kindliche Entwicklung - nicht nur auf die kognitive. Die Lehrer-Schüler-Beziehung spielt im Leben der uns anvertrauten Kinder eine große Rolle. Aber auch das Verhalten der Mitschüler und das Verhältnis zu ihnen sind von Bedeutung. Dieser Teil der Kindheit ist uns aber am stärksten bewusst, insbesondere wenn wir Kinder im Unterricht und in den Pausen genau beobachten.

Wir können uns nicht der Auseinandersetzung mit dem entziehen, was Kindheit heute ausmacht. Jeden Tag bekommen wir zu spüren, was Eltern bei der Erziehung versäumt haben, dass Familienprobleme in die Schule hineinwirken, dass kindliche Bedürfnisse nach Spiel, körperlicher Betätigung und Eigentätigkeit nicht befriedigt werden und dass die Medien zu Miterziehern geworden sind. Eltern wälzen zunehmend unangenehme Erziehungsarbeit auf die Schule ab ("Die Lehrerin wird Dir schon Ordnung beibringen!") und erwarten von ihr, dass die Schule ihre Kinder zu Höchstleistungen führt, so dass dem Übertritt auf das Gymnasium nichts mehr im Wege steht.

Aber auch die Eltern bekommen immer wieder zu spüren, dass wir Lehrer Erziehungsfehler machen, manchmal ungerecht sind, Schüler überfordern oder aus unserer pädagogischen Verantwortung flüchten. Sie werden direkt mit unseren Erwartungen konfrontiert oder antizipieren diese - z. B. dass die Hausaufgaben überwacht oder bestimmte Fähigkeiten gefördert werden sollten. So wird das Heim oft zu einer "Nebenschule". Eltern werden aber auch in Mitleidenschaft gezogen, wenn ihre Kinder Probleme mit Mitschülern haben.

Daraus ergibt sich letztlich die Notwendigkeit einer Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Lehrern: Wir können nicht ohne die Eltern und diese können nicht ohne uns erziehen. Beide Seiten sind für die ganzheitliche Entwicklung der Kinder verantwortlich; die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit ist somit "naturgegeben". Auch darf die gemeinsame Verantwortung nicht auf den Leistungsbereich oder auf den Abbau von Verhaltensauffälligkeiten verkürzt werden. Vielmehr müssen alle Aspekte der kindlichen Entwicklung und Lebenssituation berücksichtigt werden.

Erziehungspartnerschaft setzt gegenseitige Achtung und Respekt, ständigen Austausch und Dialog voraus. Wir müssen nach neuen Wegen suchen, mit Eltern ins Gespräch über Familie und Kindheit heute zu kommen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Hier können wir viel von guten Kindergärten lernen, die schon längst klassische Formen der Elternarbeit - Elternabend und terminiertes Gespräch - um neue Formen ergänzt haben. Dazu gehören beispielsweise Elterngruppen und -stammtische, Spiel- und Elternnachmittage, Schnuppertage und Hospitationsmöglichkeiten, Feste und Feiern, gemeinsame Freizeitveranstaltungen (Wanderungen, Ausflüge, Besichtigungen), zielgruppenorientierte Angebote (für Ausländerfamilien, Alleinerziehende, Väter usw.), Interessengruppen (Kurse oder Gesprächskreise zu bestimmte Themen) und offene Treffpunktmöglichkeiten (Elternsitzecke, Elterncafé).

Erziehungspartnerschaft könnte auch dazu führen, dass wir gemeinsam mit den Eltern über Kindheit, über die Lebenssituation, Bedürfnisse, Erfahrungen und Probleme der Kinder diskutieren. Lehrer und Eltern erleben Kinder in anderen Kontexten - und spätestens seit Verbreitung der Systemtheorie wissen wir, dass sich Kinder in verschiedenen Systemen unterschiedlich verhalten (können). So kann der Gesprächsaustausch durchaus zu überraschenden Erkenntnissen führen. Aus der Analyse negativer Aspekte heutiger Kindheit heraus könnte ein gemeinsames "Programm" zur Verbesserung der Lebenssituation entwickelt werden. Dann müssten wir uns nicht länger den Vorwurf gefallen lassen, dass unsere Schüler nur für die Schule, nicht aber für das Leben lernen.

Quelle

Aus: Grundschulmagazin 1994, 9 (6), S. 4-6

Literatur

Bendit, René, Gaiser, Wolfgang, Nissen, Ursula: Aufwachsen in der Bundesrepublik Deutschland. Diskurs, 2, 1992, S. 24-38.

Dietrich, Georg: Erziehungsvorstellungen von Eltern. Göttingen, Hogrefe 1985.

Horn, Imme: Kinder und Fernsehen. Papier für die Arbeitsgruppe 6 "Familie in den Medien" der deutschen Nationalkommission für das Internationale Jahr der Familie 1994. Mainz, 21.01.1993.

Nissen, Ursula: Verhäuslicht, verinselt und verplant? Jugend & Gesellschaft, 2, 1993, S. 1-6.

Textor, Martin R.: Scheidungszyklus und Scheidungsberatung. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1991.

Textor, Martin R.: Familien: Soziologie, Psychologie. Freiburg, Lambertus 1991, 2. Aufl. 1993.

Textor, Martin R.: Ehe und Familie im Licht sozialwissenschaftlicher Umfragen. Unsere Jugend, 1994, 46, S. 33-42.