PISA 2003

Martin R. Textor

 

Das Erfreuliche zuerst: In den drei Jahren zwischen PISA 2000 und PISA 2003 haben sich in Deutschland die Leistungen 15-jähriger Schüler/innen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften verbessert, zum Teil signifikant. Dies trifft vor allem auf Jugendliche zu, die Gymnasien und Realschulen besuchen, nicht aber auf Hauptschüler/innen.

Dennoch liegen die Leistungen der deutschen Jugendlichen nur im Mittelfeld der untersuchten 29 OECD-Staaten. In Mathematik sind die Schüler/innen in 15 Staaten besser, in der Lesekompetenz die Schüler/innen in 18 Staaten und in den Naturwissenschaften die Schüler/innen in 14 Staaten. Erstmals wurde auch die Problemlösekompetenz untersucht: Hier rangiert Deutschland immerhin auf dem 13. von 29 Plätzen. Und sogar ein letzter Platz ist zu verzeichnen: Nur 21% der befragten deutschen Schüler/innen berichten von einem regelmäßigen Einsatz des Computers im Unterricht - in allen anderen Staaten waren es mehr (OECD-Durchschnitt: 39%). Auch fühlen sich die Schüler/innen - wie schon bei der ersten PISA-Studie - von den Lehrer/innen weniger unterstützt als die Jugendlichen in anderen OECD-Ländern.

Bei PISA 2003 zeigen sich wie bei der ersten Untersuchung große Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Leistungen 15-jähriger Schüler/innen, die bis zu einem Schuljahr ausmachen. Am besten schneiden Jugendliche aus Bayern ab: Wären nur ihre Ergebnisse beim OECD-Staatenvergleich berücksichtigt worden, wären sie in Naturwissenschaften auf den 4. Platz (nach den Schüler/innen aus Finnland, Japan und Korea), in Lesekompetenz auf den 6. Platz, in Mathematik auf den 5. Platz und in Problemlösekompetenz auf den 4. Platz gekommen. Überdurchschnittlich gut schneiden auch Schüler/innen aus Sachsen und Baden-Württemberg ab, in Mathematik und Problemlösekompetenz außerdem Jugendliche aus Thüringen. Unter dem OECD-Durchschnitt liegen vor allem die Schüler/innen aus Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

Wie bei PISA 2000 zeigte sich erneut ein signifikanter Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz: Kinder aus unteren Sozialschichten und insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund schnitten bei den Tests viel schlechter ab als Kinder aus Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status.

Konsequenzen für das Schulsystem

Wie nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studie wird auch jetzt wieder eine Ausweitung und Verbesserung der vorschulischen Bildung und Erziehung gefordert, damit Kinder mit besseren Lernvoraussetzungen in die Schule kommen. Insbesondere Kleinkinder aus sozial benachteiligten Familien bzw. mit Migrationshintergrund sollten in Kindertageseinrichtungen viel intensiver als bisher gefördert werden. Dann könnte Deutschland gegenüber anderen OECD-Staaten aufholen.

Sicherlich ist zutreffend, dass die vorschulische Bildung und Erziehung in Deutschland weiter verbessert und kompensatorische Maßnahmen für entwicklungsverzögerte Kinder ausgebaut werden müssen. Jedoch dürfen die Möglichkeiten des Kindergartens nicht überschätzt werden - in erster Linie ist hier die Schule gefragt! Zu bedenken ist:

  1. Bei den PISA-Studien werden die Leistungen von 15-jährigen Schüler/innen getestet. Deren Kindergartenzeit liegt neun Jahre zurück, dürfte also kaum zur Erklärung der Varianz bei den Ergebnissen für die einzelnen OECD-Staaten bzw. für die deutschen Bundesländer beitragen. Ausschlaggebend für die Leistungen dürften vielmehr neben der sozialen Herkunft und der Intelligenz der Jugendlichen vor allem schulische Faktoren sein.
  2. Zwischen PISA 2000 und PISA 2003 haben sich die Testergebnisse der deutschen Schüler/innen verbessert. Dies verweist auf die Möglichkeiten der Schule, da sich diese Leistungssteigerung nur auf schulische Faktoren wie z.B. eine Verbesserung des Unterrichts oder eine Steigerung der Anforderungen zurückführen lassen.
  3. Wenn 15-jährige Schüler/innen aus Bayern bessere Leistungen erbringen als Jugendliche aus 22 bzw. 24 OECD-Staaten oder als Gleichaltrige aus anderen Bundesländern, so liegt dies eindeutig am Schulsystem. Die Qualität des Elementarbereichs dürfte in Bayern nicht signifikant besser als in anderen Bundesländern sein.
  4. Bundesländer wie Bremen, Hamburg und Berlin bieten bei weitem mehr Ganztagsplätze in Kindertageseinrichtungen und Plätze für unter Dreijährige an als Bayern oder Baden-Württemberg. Da sie mit am schlechtesten bei PISA 2003 abgeschlossen haben, dürfte die Lösung ihrer Probleme wohl kaum in einem weiteren Ausbau der Betreuungsangebote für Kleinkinder liegen.

Bessere Ergebnisse bei der nächsten PISA-Studie werden also vor allem diejenigen Bundesländer erzielen, die ihr Schulsystem weiter verbessern. Empfehlenswerte Reformen sind beispielsweise:

Schüler/innen werden gute Schulleistungen erbringen, wenn sie einen interessanten, lebensnahen und anregenden Unterricht mit viel Gruppen- und Projektarbeit erfahren. Das gute Abschneiden von Jugendlichen aus Ländern wie Japan und Korea bei den PISA-Studien lässt allerdings vermuten, dass auch ein stark strukturierter und lehrerzentrierter Unterricht mit hohen Lernanforderungen erfolgversprechend ist.

Konsequenzen für den Elementarbereich

Selbst wenn die Ergebnisse der PISA-Studien in erster Linie für das Schulsystem relevant sind, ist unbestritten, dass sowohl die Bildungsfunktion als auch die kompensatorische Funktion von Kindertageseinrichtungen verbessert werden muss. Insbesondere müssen während der Kleinkindheit die Sprachdefizite von Kindern mit Migrationshintergrund reduziert werden.

Als Reaktion auf die PISA-Studien haben die Bundesländer den Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen wieder entdeckt und Bildungspläne für Kindergärten verabschiedet, die durchaus 450 Seiten umfassen können. Neue kompensatorische Maßnahmen wurden eingeführt, die sich in erster Linie auf Kinder mit Migrationshintergrundbeziehen: Sprachstandstests einige Zeit vor der Einschulung und Deutschkurse.

Allerdings unterliegen diese Reformen starken Sparzwängen: Die Bildungspläne wurden zumeist ohne eine wissenschaftlich begleitete Erprobungsphase in den Elementarbereich eingeführt; die Erzieher/innen werden höchstens ansatzweise für deren Umsetzung weiterqualifiziert. Die Sprachförderprogramme erreichen nur einen Teil der "bedürftigen" Kinder, da vielerorts nicht genügend Mittel und Personal zur Verfügung stehen. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Diskussion - die neue Bundesregierung will 35 Mrd. EUR bis 2007 einsparen; zumindest eine Landesregierung strebt bis 2007 einen schuldenfreien Haushalt an - ist nicht zu erwarten, dass Bund und Länder in absehbarer Zeit zusätzliche Mittel bereitstellen werden.

Vor diesem Hintergrund sind die immer wieder geäußerten Erwartungen zu problematisieren, Kindertageseinrichtungen könnten Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen Kindern auf tolerable Unterschiede schrumpfen lassen und damit Chancengleichheit herstellen. So wird als Beispiel für Unterschiede in der familialen Sozialisation angeführt, dass ein Kind in einer Mittelschichtfamilie 2.100 Worte pro Stunde, in einer Arbeiterfamilie 1.200 Worte und bei Sozialhilfeempfängern 600 Worte hört. Aber: Wie viele Worte hört ein Kind wohl pro Stunde in einer Kindergartengruppe mit bis zu 28 Kindern? Wie viel dieser Kommunikation erfolgt auf dem Niveau von Drei- bis Sechsjährigen, und wie viel auf einem höheren, die Entwicklung stärker anregenden Niveau? Wie viele Worte richtet wohl eine Erzieherin in einer Stunde individuell an ein Kind?

Obwohl den Lehrer/innen - und der Bildungspolitik - seit 50 Jahren bekannt ist, dass Unterschichtkinder und Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt sind, gelang es dem Schulsystem bisher nicht, die Bildungs- und Sprachdifferenzen zwischen ihnen und den Mittelschichtkindern zu reduzieren. Und nun sollen dies Erzieher/innen leisten, die kein Studium absolviert haben und rund 25 Kinder zu betreuen haben? Die bei Ganztagsbetreuung bis zu acht Stunden Gruppendienst haben und kaum noch Verfügungszeit zur Vorbereitung von Bildungsangeboten, für Fallbesprechungen und Elternarbeit haben? Die mit einer Zweitkraft zusammenarbeiten, die z.B. in Nordrhein-Westfalen überhaupt keine pädagogische Qualifikation haben muss? Die zunehmend ein- oder zweijährige Kinder in ihrer Gruppe haben, also Bildungsangebote finden müssen, die fünf Altersstufen ansprechen? Oder die sich bei weiter Altersmischung zeitweise nur mit einigen, in etwa gleichaltrigen Kindern beschäftigen und die anderen Kinder sich selbst, d.h. dem Freispiel, überlassen? Die sich im Gegensatz zu Lehrer/innen nicht an einem Lehrplan orientieren und auf Schulbücher zurückgreifen können?

Selbst wenn man die Fortbildung von Erzieher/innen intensiviert, die Gruppengröße auf 12 bis 15 Kinder absenkt, vor- und nachmittags unterschiedliches Personal einsetzt, sodass Erzieher/innen wie Lehrer/innen einen halben Tag Vorbereitungszeit haben, und wenn man Maßnahmen der Qualitätssicherung einführt - was vermutlich eine Verdoppelung bzw. Verdreifachung der bisher aufgewendeten Finanzmittel voraussetzt -, ist nicht zu erwarten, dass mit Schulbeginn Chancengleichheit erreicht werden kann. Was nutzt z.B. eine intensive Sprachförderung, wenn das Kind aus dem Kindergarten in eine Familie zurückkehrt, in der ausschließlich Türkisch gesprochen wird, in der nur türkisches Fernsehen gesehen und türkische Musik gehört wird? Was bringt Literacy-Erziehung im Kindergarten, wenn in der Familie außer einer Boulevardzeitung keine Bücher oder Zeitschriften vorhanden sind?

Stärkung der Bildungsfunktion von Familien

Wenn Familien soziale Ungleichheit reproduzieren, ist nicht die Lösung, alle Kinder so früh und so viele Stunden pro Tag wie möglich aus den Familien herauszunehmen und in Kindertagesstätten unterzubringen. Bisher gibt es keine Belege dafür, dass diese Einrichtungen bessere Bildungs- und Erziehungssettings sind als Durchschnittsfamilien. Das Gegenteil dürfte der Fall sein: Dies lässt sich zum einen aufgrund der Hunderte von Studien vermuten, in denen ganz unterschiedliche Merkmale von Familien und Schulen in Bezug zur Schulleistung von Kindern erforscht wurden. In Dutzenden von so genannten Metaanalysen wurden auf Grundlage dieser Untersuchungen die Effektstärken einzelner Merkmale berechnet. Diese Überblicksartikel wurden von Fraser u.a. (1987) zusammengefasst, wobei sich zeigte, dass die Effektstärke der Lernbedingungen in der Familie größer war in 15 von 16 Metaanalysen zur Effektstärke von Schulmerkmalen, in 8 von 9 Metaanalysen zur Effektstärke von Lehrermerkmalen, in 23 von 30 Metaanalysen zur Effektstärke von Unterrichtsmerkmalen und in allen 37 Metaanalysen zur Effektstärke von Methodenmerkmalen.

Zum anderen zeigte die m.W. erste Längsschnittuntersuchung in Deutschland, die sowohl den Einfluss von der Familie als auch von Kindergarten und Schule auf die Entwicklung und die Schulleistungen von Kindern erfasste, dass der Kindergarten von geringerer Bedeutung als die Familie ist. Tietze, Rossbach und Grenner (2005) stellten u.a. fest, dass am Ende der Kindergartenzeit je nach Kriteriumsvariable 6,3 bis 21,9% der Entwicklungsvarianz durch die Qualität des Familiensettings und nur 3,6 bis 8,4% an zusätzlicher Varianz durch das Kindergartensetting erklärt werden konnten. Am Ende der zweiten Grundschulklasse war der Anteil an der modellerklärten Varianz, die auf die Familie zurückgeht, rund doppelt so groß wie der Anteil des Kindergartens und der Schule.

Aus diesen Forschungsergebnissen sollten folgende Konsequenzen gezogen werden:

  1. Die große Bedeutung von Familien für die Entwicklung von (Klein-) Kindern sollte anerkannt werden. Familien sind als die ersten Bildungsinstitutionen zu definieren.
  2. Insbesondere während der ersten Lebensjahre der Kinder sollten "bildungsmächtige" Familien gestärkt werden.
  3. "Bildungsschwache" Familien müssen besonders intensiv unterstützt werden: Einerseits sollten die Eltern Kompetenzen erwerben, die es ihnen ermöglichen, die Entwicklung ihrer Kinder besser zu fördern. Andererseits sollten für die Kinder kompensatorische Maßnahmen angeboten werden, durch die Entwicklungsverzögerungen frühstmöglich abgebaut werden und eine mangelnde Stimulierung ausgeglichen wird.

Seitens der Bildungs-, Familien- und Kommunalpolitik sollten Mittel für die Entwicklung von Programmen bereitgestellt werden, mit denen die "Bildungsmacht" der Familien gestärkt werden kann: "Es gilt, vor allem folgende bildungsrelevante Merkmale zu fördern:

  1. eine qualitativ gute Kommunikation zwischen Eltern und Kindern (also auch bezogen auf Wortschatz, Begriffsverständnis, Komplexität von Sätzen usw.),
  2. Unterstützung des (Klein-) Kindes bei der Erkundung der Welt und bei der Aufnahme sozialer Beziehungen,
  3. bildende Aktivitäten in der Familie, z.B. Beschäftigung mit Lernspielen, Vorlesen, Experimentieren, Gespräche über Fernsehfilme, Bücher, naturwissenschaftliche Themen oder politische Ereignisse,
  4. eine positive Einstellung zu Lernen und Leistung, zu Kindertageseinrichtung, Schule und Berufsausbildung bzw. Studium,
  5. positive Interaktionen über das, was in der Schule und im Unterricht passiert, Unterstützung bei den Hausaufgaben, ein hohes Anspruchsniveau hinsichtlich Schulleistung und -abschluss,
  6. ein enger Kontakt zwischen Eltern und Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen, damit erstere wissen, wie sie außerfamilale Bildungs- und Erziehungsbemühungen zu Hause unterstützen können" (Textor 2005, S. 156).

Besonders wichtig sind Programme in den ersten sechs Lebensjahren von Kindern, da dieser Zeitabschnitt für deren weitere (schulische) Entwicklung von größter Bedeutung ist. Außerdem sind junge Eltern motivierter, sich mit pädagogischen und kinderpsychologischen Themen zu befassen und sich intensiv ihren Kindern zu widmen. Auch können sie während des Erziehungsurlaubs relativ leicht tagsüber an Angeboten teilnehmen.

Programme sollten aber auch für Familien mit Kindern im Grundschulalter entwickelt werden. So ist für den Schulerfolg weiterhin von Bedeutung, wie stark ausgeprägt die gerade genannten bildungsrelevanten Merkmale in den Familien sind. Außerdem können Eltern die Lernleistung ihrer Kinder direkt fördern, z.B. durch Unterstützung beim Erledigen der Hausaufgaben.

Bei Familien mit Migrationshintergrund reicht es aber nicht, nur auf die Bildungsfunktion positiv einzuwirken. Hier muss im Rahmen der Programme auch Interesse am Erlernen und am Verwenden der deutschen Sprache geweckt werden. Den Eltern ist bewusst zu machen, dass ihre Kinder beruflich nur eine Zukunft haben werden, wenn sie das Bildungssystem erfolgreich durchlaufen.

Gute Programme sollten flächendeckend umgesetzt werden. Da die Durchführung eine bestimmte Qualifikation der Referent/innen verlangt und zumeist in Kursform erfolgen dürfte, sollte diese Aufgabe vor allem Trägern der Familienbildung übertragen werden. Die Angebote müssten zu einem großen Teil in Kindertageseinrichtungen und Schulen stattfinden, weil nur dort alle Eltern angesprochen werden können. Sozial benachteiligte und zugewanderte Familien können auch relativ gut mit Hilfe von aufsuchenden und stadtteilorientierten Arbeitsformen und durch die Einbindung von Fachkräften bzw. Multiplikator/innen mit Migrationshintergrund erreicht werden.

Literatur

Fraser, B.J. et al.: Syntheses of Educational Productivity Research. International Journal of Educational Research 1987, 11, S. 147-251

Herrmann, U.: Gehirngerechtes Lernen und Lehren. Spektrum der Wissenschaft spezial 2004, Heft 3, S. 28-36

Textor, M.R.: Die Bildungsfunktion der Familie stärken: Neue Aufgabe der Familienbildung, Kindergärten und Schulen? Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 2005, 85 (5), S. 155-159

Tietze, W./Roßbach, H.-G./Grenner, K.: Kinder von 4 bis 8 Jahren. Zur Qualität der Erziehung und Bildung in Kindergarten, Grundschule und Familie. Weinheim 2005