Kinderdorffamilie - Familiengruppe - Erziehungsstelle - Pflegefamilie. Oder: Wie benenne ich mein Kind?

Martin R. Textor

 

Die Begriffe "Kinderdorf" und "Kinderdorffamilie" sind in den letzten Jahrzehnten Teil der deutschen Sprache geworden. Die meisten Bürger/innen verbinden relativ genaue Vorstellungen mit ihm. Und was für einen Trägerverein bzw. -verband noch wichtiger ist: Sie verbinden positive Vorstellungen mit den Begriffen. Das hat finanzielle Konsequenzen: Meines Wissens haben SOS-Kinderdörfer mit das höchste Spendenaufkommen im Bereich der Jugendhilfe und Wohlfahrtspflege.

Allerdings entspricht das klassische Konzept der "Kinderdorffamilie" - wie es vom SOS-Kinderdorf geprägt wurde - kaum den gängigen Familienvorstellungen: Eine alleinstehende Frau erzieht eine altersgemischte Gruppe von mit ihr und (in der Regel) untereinander nicht verwandten Kindern und Jugendlichen in einer Wohngemeinschaft (Haus). Neben der fehlenden Blutsbande unterscheidet natürlich das Fehlen des Vaters die Kinderdorffamilie von der Kleinfamilie.

Die Kinderdorffamilie beim Westfälischen Kinderdorf entspricht schon eher den klassischen Familienvorstellungen, da ein Ehepaar (und leibliche Kinder) mit Pflegekindern zusammenlebt. Hier widerspricht aber die Präsenz einer Erzieherin und einer hauswirtschaftlichen Kraft in der Kinderdorffamilie dem gängigen Familienbild. Hinzu kommen

All dies sind Elemente, die dem klassischen Familienbild widersprechen. Allerdings sind die Unterschiede nicht so groß, wenn man - von der heute vielfach konstatierten Pluralisierung der Familienformen ausgehend - Kinderdorffamilien z.B. mit Teil- bzw. Stieffamilien oder nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern vergleicht. Auch hier kann Elternschaft zeitlich begrenzt sein (manche Elternteile üben nach der Trennung bzw. Scheidung ihr Sorge- bzw. Besuchsrecht nicht aus), spielt die "soziale" Elternschaft eine größere Rolle als die biologische, gibt es "außenstehende" Elternteile (und Kinder), zu denen Kontakt besteht oder die "Probleme" machen, werden ältere Kinder in eine neue (Stief-) Familie aufgenommen, mischen sich soziale Dienste in das Familienleben ein (man denke z.B. an die inzwischen abgeschaffte Amtspflegschaft für nichteheliche Kinder) usw.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht andere Bezeichnungen gäbe, die vielleicht die Realität im Kinderdorf besser widerspiegeln als der Begriff "Kinderdorffamilie".

Familiengruppe

Das Kinderdorf besteht aus einer Gruppe von Pflegefamilien; man kann somit das Kinderdorf als Familiengruppe bezeichnen. Allerdings ist dieser Begriff weitgehend theologisch besetzt: In vielen Kirchengemeinden gibt es Familiengruppen oder Familienkreise, in denen sich mehrere Familien treffen, um z.B. miteinander zu beten, die Schrift auszulegen, aktuelle Lebens- und Erziehungsfragen zu diskutieren, etwas zu unternehmen, miteinander Spaß zu haben usw. Die Gruppen werden ehrenamtlich geleitet, Aufgaben werden unter den Mitgliedern verteilt. Zu ihrer Unterstützung wird z.B. die Zweimonatszeitschrift "neue gespräche" herausgegeben (siehe Anlage).

In der Kinderbetreuung und Familienbildung spielen ferner Eltern-Kind- oder Müttergruppen eine große Rolle. Hier treffen sich einmal pro Woche oder öfters mehrere Mütter/Väter mit Kleinstkindern in einer Familienbildungsstätte, der Pfarrei oder den Räumen eines anderen Trägers, um mit ihren Kindern zu spielen bzw. diesen soziale Erfahrungen zu vermitteln sowie um über ihre Erziehung und Entwicklung mit einer zumeist einschlägig ausgebildeten und bezahlten Gruppenleiterin zu sprechen. Diese Gruppen werden manchmal auch "Familiengruppen" genannt; auf jeden Fall würde in der Öffentlichkeit dieser Begriff eher auf Eltern-Kind-Gruppen als auf Kinderdorffamilien bezogen. Deshalb halte ich ihn nicht für empfehlenswert.

Erziehungsstelle

Erziehungsstellen sind eine besonders qualifizierte Form der Familienpflege für stark problembelastete Mädchen und Jungen. Sie werden vom Landeswohlfahrtsverband Hessen betreut. Die Pflegeeltern haben zumeist eine einschlägige (pädagogische) Qualifikation, werden fachlich beraten, erfahren Fortbildung und Supervision. Deutlich wird, dass es hier viele Parallelen zu Kinderdorffamilien gibt, wenn auch in Erziehungsstellen vor allem besonders schwierige Fälle betreut werden. Dennoch würde ich den Begriff "Kinderdorffamilie" nicht durch "Erziehungsstelle" ersetzen, weil er in der Öffentlichkeit kaum bekannt und mit keinerlei Vorstellungen verknüpft ist.

Pflegefamilie

Bei Kinderdorffamilien handelt es sich natürlich um Pflegefamilien, die in einer Gemeinschaft auf demselben Gelände wohnen. So könnte man den Begriff "Kinderdorffamilie" ohne weiteres durch "Pflegefamilie" ersetzen. Dementsprechend könnte man "Kinderdorf" gegen "Familiendorf" oder "Gemeinschaft von Pflegefamilien" austauschen. Auch dies halte ich aus den oben erwähnten Gründen nicht für empfehlenswert: Der Begriff "Kinderdorf" ist in der Öffentlichkeit bekannt, akzeptiert und positiv besetzt. Das gilt für den Begriff "Pflegefamilie" in sehr viel geringerem Maße. Auch ist es ganz unüblich, für Pflegefamilien zu spenden. Hinzu kommt, dass die "klassischen" Pflegefamilien weniger Kinder als Kinderdorffamilien aufnehmen und eher isoliert erziehen - man verbindet also den Begriff nicht mit einem ganzen Netzwerk zusätzlicher Hilfen (wie eben Vertretungs- und Beratungsangebote, Mitarbeit einer Erzieherin und einer hauswirtschaftlichen Kraft usw.)

Schlussbemerkung

Selbst wenn der Begriff "Kinderdorffamilie" nicht ganz zutreffend ist, gibt es eigentlich keine Alternative für diesen Terminus.