Erziehungspartnerschaft - Bildungspartnerschaft: Plädoyer für eine intensive Zusammenarbeit von Eltern und Pädagog/innen

Martin R. Textor

 

Familie, Schule und Kindertageseinrichtung sind die drei gesellschaftlichen Institutionen, welche die kindliche Entwicklung in den ersten 10, 12 Lebensjahren entscheidend prägen. Heute werden Erziehung und Bildung eines Kindes als "Co-Produktion" von Eltern, Lehrer/innen, Erzieher/innen und dem Kind selbst verstanden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen allen Erwachsenen, basierend auf einem intensiven dialoghaften Informations- und Erfahrungsaustausch. Zur Bezeichnung der wünschenswerten Beziehung zwischen Eltern und Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen werden immer häufiger die Begriffe "Erziehungspartnerschaft" und "Bildungspartnerschaft" verwendet. Durch diese Begriffe wird die gemeinsame Verantwortung für die Erziehung und Bildung der Kinder betont. Eltern und Pädagog/innen verfolgen ähnliche Ziele und kooperieren bei deren Umsetzung. Als "Partner" sind sie gleichwertig und gleichberechtigt.

Die Familie als Bildungsinstanz

Unter Wissenschaftler/innen ist seit Jahrzehnten bekannt, dass die Familie die wichtigste Bildungsinstitution ist. Bereits 1966 erschien in den USA das Aufsehen erregende Buch "Equality of Educational Opportunity" und 1967 in Großbritannien der gleich bedeutende Sammelband "Children and Their Primary Schools". In ihnen wurde anhand von Untersuchungen nachgewiesen, dass der Anteil der Schule am Schulerfolg von Kindern nur etwa halb so groß wie der Anteil der Familie ist. In den folgenden Jahrzehnten wurden Hunderte von Studien veröffentlicht, in denen ganz unterschiedliche Merkmale von Familien und Schulen in Bezug zur Schulleistung von Kindern erforscht wurden. Die Lernbedingungen in der Familie erwiesen sich in der Regel als viel bedeutsamer als Schul-, Lehrer-, Unterrichts- und Methodenmerkmale.

Offensichtlich ist, dass sich der Einfluss von Familien auf die Schulleistungen positiv oder negativ auswirken kann: In "bildungsmächtigen" Familien werden die Kinder in hohem Maße ganzheitlich gefördert, sodass sie in der Schule erfolgreich sein können. In "bildungsschwachen" Familien wird die sprachliche und kognitive Entwicklung der Kinder nur unzureichend unterstützt.

Der Schule gelingt es im Verlauf vieler Jahre nicht, diese familienbedingten Unterschiede in den Lernvoraussetzungen zu verringern. Das Gegenteil ist sogar der Fall: Mit der Zahl der Schuljahre wird die "Leistungsschere" zwischen den Schüler/innen immer größer: Kinder aus "bildungsmächtigen" Familien brillieren am Gymnasium; Kinder aus "bildungsschwachen" Familien versagen an der Hauptschule oder kommen in Förderschulen.

Die Familie als Erziehungsinstanz

Der Einfluss der Eltern auf das Verhalten und Erleben ihrer Kinder ist bei weitem größer als der Einfluss von Lehrer/innen und Erzieher/innen. In den ersten 10, 12 Jahren wird die kindliche Persönlichkeit am stärksten von der Familie geprägt; hier erwerben Kinder die meisten sozialen und affektiven Kompetenzen.

In "erziehungsmächtigen" Familien entwickeln sich Kinder positiv und wachsen zu glücklichen, beziehungsfähigen, selbstbewussten und psychisch gesunden Menschen heran. Andere Familien sind hingegen "erziehungsschwach", beispielsweise bedingt durch Verunsicherung der Eltern in pädagogischen Fragen, Erziehungsunfähigkeit, Überbehütung, Vernachlässigung, häufig auftretende Ehekonflikte, Scheidung der Eltern und ähnliche Faktoren. Hier entwickeln Kinder häufig Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Probleme.

Fazit

Schulen und Kindertageseinrichtungen sollten einerseits den Einfluss bildungs- und erziehungsmächtiger Familien würdigen. Andererseits müssen sie auf bildungs- und erziehungsschwache Familien positiv einwirken (und für deren Kinder besondere Förderangebote bereitstellen). Eltern, Lehrer/innen und Erzieher/innen müssen erkennen, dass die Bildung bzw. Erziehung des jeweiligen Kindes eine "Co-Produktion" ist und dass sie deshalb intensiv zusammenarbeiten sollten. Sie sind sozusagen "natürliche" Partner.

Erziehungspartnerschaft

Erziehungspartnerschaft meint die gemeinsame Verantwortung von Eltern, Lehrer/innen und Erzieher/innen für die Erziehung des jeweiligen Kindes. Sie realisiert sich in einem dynamischen Kommunikationsprozess, in einem Dialog. Die wechselseitige Öffnung von Familie und Kindertagesstätte bzw. Schule setzt gegenseitiges Vertrauen und Respekt voraus - Haltungen, die sich auch auf das Kind positiv auswirken: Erlebt das Kind, dass die Pädagog/innen seine Familie wertschätzen, wird es eher Selbstachtung entwickeln. Merkt es, dass seine Eltern die Lehrer/innen bzw. Erzieher/innen respektieren, fördert dies den pädagogischen Bezug und die Lernmotivation.

Öffnung auf Seiten der Familie bedeutet, dass die Eltern über das Verhalten des Kindes in der Familie, ihre Lebenssituation, ihre Erziehungsziele und -methoden sprechen. Auf Seiten der Kindertagesstätte bzw. Schule geht es bei der Öffnung darum, den Alltag in der Institution für Familien durchschaubar zu machen. Die Eltern möchten wissen, wie normalerweise ein Tag abläuft, welche Erziehungsziele, -vorstellungen und -praktiken die Pädagog/innen haben und wie sie sich in schwierigen Situationen verhalten - z.B. gegenüber einem trotzenden oder aggressiven Kind. Auch wollen sie von dem entwicklungspsychologischen und pädagogischen Fachwissen und den Erfahrungen der Pädagog/innen profitieren. Vor allem aber wünschen sie Informationen darüber, wie sich ihr Kind in der Gruppe bzw. Klasse verhält, wie es sich entwickelt, welchen Lernfortschritt es macht und ob es Schwierigkeiten hat.

Erziehungspartnerschaft bedeutet aber nicht nur den Austausch von Informationen über Verhalten, Entwicklung und Erziehung des Kindes im jeweiligen System, sondern geht einen entscheidenden Schritt weiter: Eltern und Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen versuchen, ihre Erziehungsziele, -methoden und -bemühungen aufeinander abzustimmen, den Erziehungsprozess gemeinsam zu gestalten und sich gegenseitig zu unterstützen. Erziehungspartnerschaft bewährt sich vor allem dann, wenn ein Kind verhaltensauffällig wird oder sprachgestört, entwicklungsverzögert bzw. behindert ist. Eltern und Pädagog/innen kooperieren dann miteinander, um die Probleme mit dem jeweiligen Kind zu bewältigen bzw. ihm zu helfen, seine Schwierigkeiten zu meistern.

Durch Erziehungspartnerschaft können Verbindung und Kontinuität zwischen den Lebensbereichen Familie und Schule bzw. Kindertagesstätte gewährleistet werden. Das Kind wird nicht nur in seiner "Ganzheit" gesehen (also wie es sich in allen Systemen verhält), sondern es kommt auch ein ganzheitliches Erziehungsprogramm zustande.

Je älter das Kind ist, umso mehr kann es in den Austausch zwischen Eltern und Pädagog/innen einbezogen werden. In vielen Ländern besteht auch die Möglichkeit, die Kooperation zwischen Familie und Kindertageseinrichtung bzw. Schule in einem Bildungs- und Erziehungsvertrag zu formalisieren. Ältere Schüler/innen werden bei dessen Erstellung eingebunden; sie unterschreiben ebenfalls den Vertrag.

Bildungspartnerschaft

Je mehr die Familie als Co-Produzent von Bildung wahrgenommen und je intensiver die Kooperation mit ihr wird, umso mehr müssen Lehrer/innen und Erzieher/innen ihre Bildungsziele mit den Eltern abstimmen. Ferner sollten sie ihre Bildungsangebote in die Familien hineintragen: In Kindertageseinrichtungen können z.B. die Eltern aufgefordert werden, von den Erzieher/innen behandelte Themen zu Hause aufzugreifen und zu vertiefen. So können sie relevante Bilderbücher aus einer Bücherei ausleihen und mit den Kindern anschauen, mit ihnen über neue Begriffe sprechen oder mit ihnen z.B. ein Experiment oder eine Bastelarbeit durchführen. Die Erzieher/innen können auch Materialien wie Bilderbücher oder Lernspiele zusammenstellen, die Eltern ausleihen können. So werden diese motiviert, zu Hause bildende Aktivitäten mit ihren Kindern durchzuführen.

Auch Lehrer/innen können ähnliche Aufträge erteilen und auf diese Weise erreichen, dass Eltern und Kinder über Unterrichtsinhalte sprechen, diese vertiefen oder ergänzende Aspekte gemeinsam erarbeiten. In den USA wird seit Jahren mit so genannten "interaktiven Hausaufgaben" gearbeitet, die Lehrer/innen unter Berücksichtigung der Interessen von Eltern und Kindern entwickeln und die von Letzteren im Gespräch miteinander erledigt werden müssen. Ergänzend werden mancherorts "homework workshops" angeboten, in denen Eltern lernen, wie sie mit solchen interaktiven Hausaufgaben umgehen sollen. Dabei geht es auch um das Erlernen von Fragetechniken, die Kinder zum Nachdenken anregen. Bei Workshops an Grundschulen wird besonders betont, wie Eltern das Lesen ihrer Kinder fördern können. Inzwischen wurde nachgewiesen, dass Eltern-Kind-Interaktionen im Zusammenhang mit dem Erledigen von Hausaufgaben das Interesse an Bildung auf beiden Seiten fördern und beim Kind zu besseren Schulleistungen führen.

Eltern können auch gelegentlich in Kindertageseinrichtungen oder Schulen mitarbeiten. Wenn sie ihr Wissen, ihre beruflichen Kompetenzen, ihre Hobbys usw. einbringen, erweitert sich das Bildungsangebot. Zudem wird der Unterricht bzw. der Kindergartenalltag interessanter und abwechslungsreicher. Die Kinder profitieren in ihrer Entwicklung, weil sie neben den Pädagog/innen andere Erwachsene als Gesprächspartner, als Vorbild und Rollenmodell haben. Sie erfahren mehr Stimulation, Anleitung und Förderung. Durch die intensivere Interaktion mit Erwachsenen wird ihre sprachliche und kognitive Entwicklung beschleunigt. Ferner erwerben sie soziale Kompetenzen durch den Umgang mit zuvor oft unbekannten Personen.

Bei der Projektarbeit werden Eltern direkt in bildende Aktivitäten seitens der Schulen und Kindertageseinrichtungen eingebunden. Die Kooperation zwischen Eltern und Lehrer/innen bzw. Erzieher/innen kann in allen oder in einzelnen Phasen von Projekten erfolgen - bei der Projektplanung, -durchführung und -evaluation. Hier können Eltern am Vorbild der Pädagog/innen lernen, wie komplexe und vielseitige Bildungsprozesse geplant, initiiert und gelenkt werden können, wie die Bedürfnisse und Interessen von Kindern berücksichtigt werden, wie diese an Entscheidungen beteiligt werden und auf welche Weise ihre Lernmotivation aufrecht erhalten wird. Wenn sie während des Projekts Kleingruppen bei bestimmten Aktivitäten anleiten, ist sogar "learning by doing" möglich - mit Rückmeldung durch die Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen. Natürlich können Eltern auch aufgefordert werden, Projektthemen zu Hause aufzugreifen und zu vertiefen.

Elternberatung

Bei einer Erziehungspartnerschaft sind Lehrer/innen und Erzieher/innen selbstverständlich bereit, Eltern bei Erziehungsfragen und -schwierigkeiten zu helfen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten erfassen sie die Ursachen von Erziehungsproblemen und suchen gemeinsam mit den Eltern nach Lösungen. Können sie den Beratungsbedarf nicht befriedigen, vermitteln sie entsprechende Hilfen, z.B. durch Erziehungsberatungsstellen, Schulpsychologische Dienste oder Jugendämter. Werden sie mit Familienproblemen und -belastungen konfrontiert, die sich negativ auf die Kinder auswirken, aber nicht pädagogischer Natur sind (z.B. Trennung/ Scheidung, Armut, Behinderung), erschließen sie den Familien relevante Hilfsangebote (z.B. von Scheidungsberatungsstellen, Sozial- oder Gesundheitsämtern). All dies setzt die Vernetzung zwischen Kindertageseinrichtungen, Schulen, Behörden und psychosozialen Diensten voraus.

Darüber hinaus können Pädagog/innen mit Erziehungs-, Familien-, Drogen- und anderen Beratungsstellen vereinbaren, dass deren Mitarbeiter/innen Beratungstermine direkt in ihrer Schule bzw. Kindertagesstätte anbieten. Ferner können Berater/innen und Therapeut/innen Gruppenangebote für Eltern mit verhaltensauffälligen, erziehungsschwierigen, entwicklungsverzögerten oder behinderten Kindern machen.

Elternbildung

Über Kindertageseinrichtungen und Schulen sind Eltern "flächendeckend" zu erreichen. Deshalb sind hier familienbildende Angebote am sinnvollsten, da prinzipiell alle Eltern angesprochen werden können - selbst sozial benachteiligte Eltern und Eltern mit Migrationshintergrund. So können bei Elternabenden und in Gesprächskreisen Erziehungsfragen thematisiert und relevante pädagogische Kenntnisse vermittelt werden. Ferner kann eine Elternbibliothek oder Leseecke mit Erziehungsratgebern, Elternzeitschriften und Broschüren über sozialpolitische Leistungen eingerichtet und auf familienbildende Angebote im Internet verwiesen werden.

Da die personellen Kapazitäten an Schulen und Kindertageseinrichtungen begrenzt sind, bietet sich eine Zusammenarbeit mit Familienbildungsstätten (aber auch mit Volkshochschulen, kirchlichen Erwachsenenbildungseinrichtungen etc.) an. Deren Mitarbeiter/innen kennen in der Regel erfahrene Kursleiter/innen und Referent/innen, die zu relevanten Themen Elternabende, Gesprächskreise oder Wochenendveranstaltungen durchführen können. Im Idealfall können Erzieher/innen und Lehrer/innen somit ohne großen Aufwand ein umfassendes Familienbildungsprogramm an ihrer Schule bzw. Kindertagesstätte aufbauen, das neben Elterntrainings und -kursen auch Einzelveranstaltungen zu Themen wie Medienerziehung, Umgang mit Eltern-Kind-Konflikten, Hausaufgabenbetreuung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Suchtprävention, autoritativer Erziehungsstil usw. umfasst. Komplexere Themen wie z.B. "Trennung und Scheidung" könnten von Eltern in Gesprächskreisen diskutiert werden. Daneben wären auch Angebote für besondere Zielgruppen wie Alleinerziehende oder Eltern mit Migrationshintergrund (z.B. Sprachkurse) denkbar.

Anmerkung

Eine umfassendere Darstellung der Thematik finden Sie in meinen Büchern "Elternarbeit im Kindergarten. Ziele, Formen, Methoden" (Books on Demand, 4. Aufl. 2021), "Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kindertageseinrichtungen" (Books on Demand, 3. Aufl. 2020) und "Elternarbeit in der Schule" (Books on Demand, 3. Aufl. 2021), die im Buchhandel und z.B. bei Amazon erhältlich sind.