Mangelnde Erfüllung von Familienfunktionen und De-Familialisierung der Kindheit

Martin R. Textor

 

Bisher galt es als unbestrittene Tatsache, dass Familien eine Vielzahl wichtiger Funktionen für ihre Mitglieder und für die Gesellschaft erfüllen. Sie würden den Einzelnen mit lebensnotwendigen Gütern und wichtigen Dienstleistungen versorgen, die Regeneration der Arbeitskraft und viele Formen gemeinsamer Freizeitgestaltung ermöglichen, den Fortbestand der Gesellschaft garantieren und die Sozialisation, Personalisation und Enkulturation der nachwachsenden Generation sichern. Aber stimmt dies heute noch? Vielleicht lässt sich diese Frage beantworten, wenn wir eine Funktion nach der anderen genauer betrachten...

Haushaltsführung

Vor allem die Familien- und Haushaltsökonomik untersucht die familiale Haushaltsfunktion. Aus dieser Sicht lassen sich Familien als produzierende und konsumierende wirtschaftliche Einheiten definieren, in denen familiales Handeln durch ökonomische Faktoren bestimmt wird. So habe jeder Familienhaushalt sowohl einen Input, z.B. Einkommen, staatliche Leistungen, erworbene Güter, als auch einen Output: Er produziere Güter und Dienstleistungen mit einem hohen qualitativen Wert, die das Handlungspotential der Familie aufrechterhalten, der Befriedigung wichtiger Bedürfnisse dienen und einen großen Teil der Lebensqualität für den Einzelnen ausmachen.

Meines Erachtens hat die Haushaltsfunktion in den letzten zwei, drei Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung verloren. Wohl wird von Familien mit zunehmender Tendenz konsumiert, wobei jedoch sehr viele Güter wie z.B. der Zweitwagen für die erwerbstätige Ehefrau, das Moped für den Jugendlichen oder der Fernseher und der Computer für das Kinderzimmer nur für ein einzelnes Familienmitglied angeschafft und ausschließlich von dieser Person genutzt werden. Sie kommen also nicht mehr der Familie an sich zugute. Andere erworbene Güter machen familiale Dienstleistungen weitgehend überflüssig - beispielsweise ersetzt die Mikrowelle das Kochen, die Tiefkühltruhe das Einkochen und der Geschirrspüler das Abwaschen. Auch wird ein beachtlicher Teil des Konsumierens nach außen hin verlagert, z.B. in Restaurants, Bistros, Schnellimbisse usw.

Bedeutsamer ist jedoch, dass immer weniger Güter und Dienstleistungen von den Familien selbst produziert werden. So entfällt die Notwendigkeit, wenn beispielsweise Wäsche in die Reinigung gebracht wird, wenn Pizzas oder andere Speisen per Telefon geordert werden oder wenn gleich in Kantinen oder Gasthäusern gespeist wird. Aber auch der Zeitaufwand sinkt, wenn z.B. Wäsche nur noch von der Waschmaschine in den Trockner und dann in den Schrank geräumt werden muss oder wenn Fertiggerichte nur noch in der Mikrowelle erhitzt werden müssen. Letzteres können schon Schulkinder selbst machen, wenn sie Hunger haben, und das Gericht gleich aus der Alu-Form essen - somit entfallen Tischdecken und Abwaschen.

So ist festzuhalten: Je weiter die Technisierung der Haushalte fortschreitet - es sind ja z.B. schon Roboter-Staubsauger und Roboter-Rasenmäher entwickelt worden, die sicherlich bald in vielen Haushalten vorhanden sein werden - und je weniger Zeit die Familienmitglieder aufgrund zunehmender Frauenerwerbstätigkeit, längerer Arbeitszeiten, Ganztagsbetreuung von Kindern usw. zu Hause verbringen werden, umso mehr wird die Haushaltsfunktion noch an Bedeutung verlieren. In den USA kann man bei vielen Familien mit älteren Kindern schon beobachten, dass der Haushalt nur noch als Schlafplatz und Ort des Wäschewechselns dient...

Freizeitgestaltung

Die Freizeit ist den Menschen im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte immer wichtiger geworden. Zum einen steht mehr Zeit für Freizeitaktivitäten zur Verfügung, weil die Wochen- und die Lebensarbeitszeit gekürzt wurden, der Jahresurlaub verlängert wurde und die Lebenserwartung gestiegen ist. Zum anderen wird heute die eigene Selbstverwirklichung vermehrt in der Freizeit gesucht, da in diesem Bereich mehr Selbstbestimmung möglich ist als im Beruf und das Leben abwechslungsreicher, befriedigender und erlebnisvoller gestaltet werden kann. Zudem haben aufgrund der großen beruflichen Belastung und der oft recht einseitigen Beanspruchung die eigene Gesunderhaltung, Erholung und Entspannung sowie die Regeneration der Arbeitskraft eine große Bedeutung.

Familien unterscheiden sich danach, wie viel Freizeit sie gemeinsam verbringen. Beispielsweise ist das Ausmaß der miteinander verbrachten Freizeit von dem Alter der Familienmitglieder abhängig. So unternehmen Ehepaare mit Kleinkindern mehr gemeinsam als Ehepaare mit Schulkindern oder Jugendlichen. Jedoch kann man wohl mit Berechtigung konstatieren, dass in den letzten 10 Jahren die familiale Freizeitfunktion an Bedeutung verloren hat: Zum einen steht immer weniger Zeit zur Verfügung. So werden seit jüngster Zeit die berufsbedingten Abwesenheiten wieder länger, werden Mütter nach Geburt der Kinder immer häufiger, schneller und für mehr Stunden wieder erwerbstätig, verbringen Kinder immer mehr Zeit außerhalb ihrer Familien in Kindertagesstätten, Schulen, Nachmittagsbetreuung, Sportvereinen, Musikschulen und anderen Einrichtungen. Zum anderen haben sich die Interessen auseinander entwickelt: Es gibt immer weniger Freizeitaktivitäten, die Eltern und ältere Kinder gemeinsam machen. Selbst in der Ferienzeit "koppeln" sich immer jünger werdende Schulkinder bzw. Jugendliche von ihren Eltern ab und fahren mit Gleichaltrigen in den Urlaub. Schließlich verbringen Familienmitglieder zunehmend ihre Freizeit ohne Kontakt zueinander in verschiedenen Räumen der Wohnung. So sind immer mehr Kinder- und Jugendzimmer mit eigenem Fernseher, mit Stereoanlage und Computer ausgestattet, verbringen Kinder hier die bereits mehrere Stunden am Tag umfassende "Medienzeit" - nicht aber im Wohnzimmer mit den Eltern.

Selbsterhaltungsfunktion

Eine andere wichtige Funktion von Familien ist, dass sie sich selbst als Einheit erhält. Dies bedeutet, dass die Familienmitglieder befriedigende Beziehungen aufbauen, sich auf eine bestimmte Verteilung von Aufgaben, Rechten, Pflichten und Entscheidungsbereichen einigen, von allen akzeptierte Regeln setzen, Grenzen nach außen hin aufrechterhalten und ein effektives Funktionieren im Inneren der Familie sicherstellen. Dazu müssen auch die aus ihrem Zusammenleben resultierenden Probleme und Konflikte gelöst werden.

Aus meinen bisherigen Ausführungen kann schon geschlossen werden, dass viele Familien diese Funktion nur noch teilweise erfüllen. Sehen sich die Familienmitglieder nur noch selten und gehen sie selbst in ihrer Wohnung getrennte Wege, entstehen wohl kaum befriedigende Beziehungen. Beansprucht die Haushaltsführung immer weniger Zeit, müssen nur noch wenige Aufgaben verteilt oder gar gemeinsam erledigt werden. Zunehmend wird aber auch von Familien berichtet, in denen das "totale Chaos" herrscht. Die Mitglieder können nicht mit Geld umgehen und sind somit hoch verschuldet, die Wohnung ist verdreckt und die Kleidung der Erwachsenen und Kinder verschmutzt. Schließlich können viele Familien Konflikte nicht auf friedliche und endgültige Weise lösen: Einerseits kommt es dann häufig zur Gewaltanwendung gegenüber Ehepartner und/oder Kindern, andererseits zur Trennung. Inzwischen scheitert schon fast die Hälfte aller Ehen. Immer mehr Kinder erleben, wie ihre Familie zerfällt.

Reproduktion

Eine weitere bedeutende Funktion der Familie ist die Reproduktion, das heißt die Zeugung neuer Familien- und Gesellschaftsmitglieder. Während bis Ende der 1960-er Jahre auf die Eheschließung nahezu "automatisch" die Gründung einer Familie folgte, können sich heute Ehepartner aufgrund der unbeschränkten Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln bewusst für oder gegen (weitere) Kinder entscheiden. Befragt man Ehepartner, so wollen fast alle mindestens zwei Kinder haben. In der Realität bleibt aber heute eine große Zahl der Ehen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften kinderlos - die Reproduktionsfunktion wird nicht erfüllt.

Hinzu kommt, dass sich auch eine große Zahl von Ehepaaren auf ein Kind beschränkt. Junge Eltern verzichten häufig auf die vollständige Erfüllung ihres Kinderwunsches, weil ihnen beispielsweise die Aufwendungen oder Zeitkosten für mehrere Kinder zu hoch erscheinen, da sie sich noch andere Wünsche erfüllen wollen, weil Frauen nach einer eigenen beruflichen Karriere streben und darin durch mehrere Kinder behindert würden oder weil andere Gründe wie z.B. (drohende) Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnsituation oder Überforderung durch das schon vorhandene Kind dagegen sprechen.

In den vergangenen 25 Jahren hat jede Frau im Durchschnitt 1,4 Kinder zur Welt gebracht - das Statistische Bundesamt rechnet damit, dass sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 nicht nennenswert ändern wird. Geht man davon aus, dass die Lebenserwartung weiter gleichmäßig um zwei bis drei Monate pro Jahr ansteigen und die Zahl der Zuwanderer bei knapp 200.000 pro Jahr bleiben wird - wie im Durchschnitt der vergangenen 50 Jahre -, so muss man mit einem starken Rückgang und einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung in Deutschland rechnen. Für 2050 hat das Statistische Bundesamt folgende Prognose vorgelegt (lt. Stern vom 02.09.2003):

  • Deutschland wird 68,5 Millionen Einwohner haben. Heute sind es 82,4 Millionen.
  • Fast 40 Prozent werden über 60 Jahre alt sein.
  • Nur jeder siebte Deutsche wird noch unter 20 sein. Heute ist es jeder Fünfte.
  • Auf 100 Deutsche zwischen 20 und 60 werden 85 Senioren kommen.

Inzwischen ist allgemein bekannt, dass diese aus der mangelnden Erfüllung der Reproduktionsfunktion seitens der Familien resultierende Bevölkerungsentwicklung mit vielen negativen Folgen verbunden ist, wie z.B. stark steigende Aufwendungen für Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen, höhere Kosten im Sozialbereich, Nachfragerückgang bei Konsumartikeln und Dienstleistungen sowie ein abnehmendes und überaltertes Arbeitskräfteangebot.

Sozialisation und Erziehung

Als Sozialisation bezeichnet man den Prozess, durch den Kinder zu vollwertigen und handlungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft werden. Sie erlernen sozial relevante Verhaltensweisen, übernehmen verschiedene Rollen, bilden eine Geschlechtsidentität aus und entwickeln Kommunikationsfertigkeiten, Kooperationsbereitschaft, Frustrationstoleranz usw. Ein parallel ablaufender Prozess ist die Enkulturation, d.h. die Prägung der Kinder durch die z.B. von den Eltern repräsentierten Kultur, Schicht und Religion. So übernehmen Kinder Werte, Normen, Weltanschauungen und moralische Einstellungen, erlernen kulturspezifische Denkweisen und den Umgang mit Sprache, Schrift und Technik. Gleichzeitig kommt es zur Personalisation, d.h. zur Ausbildung der Persönlichkeitsstruktur und zur Individuation von Kindern. Diese entwickeln z.B. ein Selbstbild und eine Ich-Identität, Selbstwertgefühle, Durchsetzungskraft, Leistungsmotivation, Problemlösefertigkeiten usw.

Bisher wurde davon ausgegangen, dass Sozialisation, Enkulturation und Personalisation von Kindern weitgehend durch die Familienerziehung geprägt würden. Dasselbe gelte für die Platzierungsfunktion, das heißt, die Familie sei an der Zuweisung sozialer Positionen in Schule, Arbeitswelt, Politik usw. entscheidend beteiligt. Für Letzteres gibt es auch viele Belege: In neuster Zeit hat z.B. die PISA-Studie gezeigt, dass Kinder aus der Mittelschicht überwiegend das Abitur erwerben und studieren, während der größte Teil der Kinder aus der Unterschicht nur die Hauptschule und eine Berufsausbildung abschließt. Der soziale Status der Eltern wird also praktisch "vererbt".

Während die Familie auch heute noch ihre Platzierungsfunktion erfüllt, muss man hinterfragen, ob dies auch für die Sozialisation und Personalisation gilt. Inwieweit sind Eltern noch erzieherisch tätig? Haben sie überhaupt noch Zeit für ihre Kinder?

Hier bietet sich ein Blick auf die Situation in den USA an, die vielleicht ein Vorreiter auf dem Gebiet negativer Entwicklungen bei Familien sind. Im Jahr 2002 erschien das Buch "Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet" von Arlie Russell Hochschild. Die bekannte amerikanische Soziologie-Professorin verbrachte drei Sommer in einer kleinen Pension in Spotted Deer, um während dieser Zeit die Mitarbeiter/innen von Amerco, einem Fortune-500-Unternehmen, zu interviewen. Dieser Betrieb gilt in den USA als besonders familienfreundlich; er bietet Teilzeitarbeit ohne Abstriche bei den Karriereaussichten, Job Sharing, komprimierte Wochenarbeitszeiten, flexible Arbeitszeitgestaltung usw. Noch vor dem ersten Interview ermittelte Hochschild jedoch, dass nur 3% aller Beschäftigten mit Kindern von 13 Jahren und jünger Teilzeit arbeiteten; nur 1% machte Job Sharing; und gerade ein Drittel der Eltern hatte flexible Arbeitszeiten - die Übrigen arbeiteten neun oder zehn Stunden am Tag mit festen Anwesenheitszeiten.

Weshalb nutzten so viele Eltern nicht die großzügigen Angebote von Amerco? In den Interviews kristallisierte sich heraus, dass sie weitgehend dem Bild vom "idealen" Angestellten entsprechen wollten - ein in den USA weit verbreitetes Leitbild, in dessen Zentrum Flexibilität steht: die Bereitschaft, ohne Widerspruch andere Aufgaben in der Firma zu übernehmen, Überstunden zu machen, in Notfällen die Arbeit anderer mit zu erledigen oder jederzeit umzuziehen. Dieses Leitbild impliziert, dass Berufsarbeit mehr Spaß macht, sinnvoller und "lohnender" ist sowie interessantere soziale Kontakte umfasst als das, was Erwerbstätige zu Hause erwartet: quengelige Kinder, Kochen, Putzen usw.

So stellte Hochschild bei Amerco fest, dass die Anziehungskraft der Arbeitswelt stärker wird, die der Familie und des sozialen Umfeldes schwächer. Damit kommen wir zur zentralen These ihres Buches: Das Unternehmen werde immer mehr zum Zuhause, während die Familie immer mehr an emotionaler Bedeutung verliere: Letztere sei nur noch Treffpunkt von Personen mit unterschiedlichen Interessen und eigenen Zeitplänen, ein Ort zum Essen - immer seltener gemeinsam -, zum Fernsehen - zumeist in getrennten Räumen - und zum Schlafen. Hochschild schreibt: "In diesem neuen Modell von Familie und Arbeitsleben flieht der müde Vater oder die müde Mutter aus der Welt der ungelösten Konflikte und ungewaschenen Wäsche in die verlässliche Ordnung, Harmonie und gute Laune der Arbeitswelt" (a.a.O., S. 56). Die ganze Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie alle Angebote familienfreundlicher Unternehmen würden diesen Wandel in der emotionalen Signifikanz beider Lebenswelten noch nicht berücksichtigen.

Die zunehmende Bedeutung der Arbeitswelt wird in den USA besonders deutlich: So sind die Arbeitszeiten der Amerikaner viel länger als die der Beschäftigten in anderen Industrienationen, sogar um zwei Wochen länger in Japan. Bedingt durch die (Voll-) Erwerbstätigkeit von Müttern hatten amerikanische Eltern 1996 durchschnittlich 22 Stunden pro Woche weniger Zeit für ihre Kinder als 1969. Ich wiederhole: Amerikanische Eltern hatten 1996 durchschnittlich 22 Stunden pro Woche weniger Zeit für ihre Kinder als 1969. Aber auch zwei "Zeitfallen" machte Hochschild aus: Hoch qualifizierte Fachkräfte arbeiten länger, weil sie ihre Arbeit lieben; Fließbandarbeiter machen Doppelschichten, weil sie das Geld brauchen. Hinzu kommt, dass Ende der 1990-er Jahre 8% der amerikanischen Beschäftigten zwei Jobs hatten.

Hochschild berichtet auch vom Privatleben der Beschäftigten von Amerco: das abnehmende Gefühl von Sicherheit in der Familie bedingt durch die hohen Scheidungsraten, die mangelnde Zeit für Partner, Kinder und die eigenen (alten) Eltern, die durch Überstunden und Schichtarbeit verursachten Probleme und die Unzufriedenheit mit dieser Situation. So seien Kinder, Kranke und Alte - oft aber auch die Partner - die Verlierer in diesem System. Hochschild fragt: "Aber warum gingen Amercos berufstätige Eltern, von denen die meisten doch sagten, sie brauchten mehr Zeit für die Familie, nicht auf die Barrikaden, um sie sich zu erkämpfen? Bei vielen von ihnen mag dies eine Reaktion auf einen machtvollen Trend sein, der zu einer Entwertung all dessen führt, was einmal das Wesen des Familienlebens ausmachte. Je mehr Frauen und Männer das, was sie tun, im Austausch gegen Geld tun und je höher ihre Arbeit im öffentlichen Bereich geschätzt und anerkannt wird, desto mehr wird, fast schon zwangsläufig, das Privatleben entwertet und desto mehr schrumpft sein Einflussbereich. Für Frauen wie für Männer ist die marktvermittelte Erwerbsarbeit weniger eine schlichte ökonomische Tatsache als ein komplexer kultureller Wert. Galt es zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch als Unglück, wenn eine Frau arbeiten gehen musste, ist man heute überrascht, wenn sie es nicht tut" (a.a.O., S. 212).

Hochschild überprüfte, ob ihre Erkenntnisse Amerco-spezifisch sind oder verallgemeinert werden können. Dazu konnte sie auf eine Befragung von 1.446 Eltern mit Kleinkindern zurückgreifen, die der (oberen) Mittelschicht angehörten und bei verschiedenen großen amerikanischen Unternehmen arbeiteten. Ein Drittel ließ ihre Kinder jede Woche 40 Stunden und länger in Kindertagesstätten betreuen - je höher das Einkommen, umso länger. Ein Drittel der Eltern bezeichnete sich bzw. den Partner als Workaholic; 89% erlebten Zeitnot; die Hälfte nahm in der Regel Arbeit mit nach Hause. Nur 9% konnten Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Viele Eltern erlebten den Beruf befriedigender als die Arbeit zu Hause und bewerteten die dort erbrachten Leistungen eher als "gut oder ungewöhnlich gut" (86%) denn die Leistungen in der Familie (59%). Ganze 47% hatten die meisten Freund/innen bei der Arbeit - nur 16% in der Nachbarschaft. Somit belegen diese Umfrageergebnisse die Tendenz der kulturellen Umpolung von Arbeitsplatz und Zuhause.

Auch andere Studien zeigen laut Hochschild, wie die Beziehungen zu Partner und Kindern unter der Verlagerung des Erwachsenenlebens in die Arbeitswelt leiden: gegen das Zeitkorsett aufbegehrende Kleinkinder, vereinsamte "Schlüsselkinder", mit Ferienlager statt Familienurlaub abgefundene Kinder, unbefriedigende Ehebeziehungen und hohe Scheidungsquoten. Aber auch die Gesellschaft leidet, denn Erwachsene haben immer weniger Zeit, Einfluss auf Kindertageseinrichtungen und Schulen zu nehmen, sich kirchlich, politisch oder gewerkschaftlich zu engagieren, Vereinen und Organisationen beizutreten.

Die Aussagen von Hochschild mögen Ihnen übertrieben vorkommen - aber wir wissen, dass viele Entwicklungen in den USA einige Jahre später in Deutschland nachvollzogen werden. Und schon 1998 lag in der Bundesrepublik die tatsächliche Wochenarbeitszeit von Vollzeitkräften bei 44,4 Stunden - trotz 38,5-Stunden-Woche. Bedenken wir, dass es sich hier um einen statistischen Durchschnittswert handelt, müssen wir davon ausgehen, dass Millionen Erwerbstätige 45, 50 und noch mehr Stunden pro Woche arbeiten. So sind auch in Deutschland Familien zunehmend von der Zeitfalle betroffen. Auch fordern Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände, Wirtschaftswissenschaftler/innen und Politiker/innen, dass die Deutschen in Zukunft noch mehr und noch länger arbeiten müssten...

Aber schon jetzt kann man wie z.B. Adalbert Metzinger (2002), promovierter Erziehungswissenschaftler, Lehrer an einer Fachschule für Sozialpädagogik und nebenberuflicher Berater an einer Jugendberatungsstelle, von einer "Krise der Familienerziehung" in Deutschland sprechen. Sie zeige sich in einer Verunsicherung der Eltern, in einer durch Berufstätigkeit überlasteten und unter Identitätskrisen leidenden Mutter, in einem am Rande stehenden Vater mit unklarer Rolle, in Erziehungsschwierigkeiten und sogar in Erziehungsunfähigkeit. Viele Kinder würden heute von ihren Eltern unter Leistungsdruck gesetzt und überfordert: Sie sollen "perfekte" und "autonome" Kinder sein. So würden sie zu schnell wie Erwachsene behandelt. Ferner beklagt Metzinger die zu früh beginnende und zu lange dauernde Fremdbetreuung - mit Folgen wie Trennungsängsten, mangelnder Geborgenheit, Bindungsunsicherheit usw. Immer mehr Kinder würden von ihren Eltern emotional und sozial vernachlässigt.

In vielen Familien übernimmt sogar der Fernseher die Rolle eines Babysitters. Beispielsweise ergab eine Umfrage des amerikanischen Familienverbandes "Kaiser Foundation" unter mehr als 1.000 amerikanischen Eltern, dass bereits ein Viertel aller Schlafzimmer amerikanischer Kleinkinder im Alter bis zu zwei Jahren mit Fernsehapparaten ausgerüstet sind. Mehr als zwei Drittel der Unter-Zweijährigen verbringen durchschnittlich zwei Stunden am Tag damit, sich Fernsehsendungen oder Videos anzuschauen oder Computer- und Videospiele zu spielen. In der Altersgruppe von Kindern bis zu drei Jahren hat nach der Studie schon jedes vierte Kind einen Computer benutzt, ohne dabei auf dem Schoß der Eltern zu sitzen (lt. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.10.2003).

Aber auch in Familien mit älteren Kindern herrscht häufig "Sprachlosigkeit" zwischen den Generationen. Bei der PISA-Studie gaben nur etwas mehr als 40% der deutschen Schüler/innen an, dass ihre Eltern regelmäßig mit ihnen über ihre schulischen Leistungen reden - der OECD-Durchschnitt lag bei 51,2%, der Wert für italienische Eltern sogar bei gut 60%. Ferner berichteten von den deutschen 15-Jährigen nur 41%, dass ihre Eltern regelmäßig mit ihnen persönliche Gespräche führen, und gerade einmal 16%, dass sie mit ihnen mehrmals pro Woche über Bücher, Filme oder Fernsehen reden.

So werden die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern mit zunehmendem Alter letzterer immer ärmer an Kommunikation bzw. an einem intensiven persönlichen Gesprächsaustausch. Der erzieherische Einfluss der Eltern ist oft schon bei 12-Jährigen nur noch minimal. Kein Wunder, dass sich die verschlechternde primäre Sozialisation in einer hohen Zahl verhaltensauffälliger, psychisch gestörter, entwicklungsverzögerter oder "sprachfauler" Kinder zeigt. Schon im Kindergarten gelten 25% der Kleinkinder als auffällig.

Schlussbemerkungen

Meine Ausführungen lassen sich in drei Thesen zusammenfassen:

  1. Für Erwachsene hat die Familie eine abnehmende Bedeutung. Ein großer Teil der Erwachsenen verzichtet sogar auf die Familiengründung - und oft sogar auf das Zusammenleben mit einem Partner, was die steigende Zahl der Single-Haushalte belegt.
  2. Die Funktionen von Familien haben in den letzten Jahren an Bedeutung verloren oder werden schlechter erfüllt als früher.
  3. Die Kindheit wird "de-familialisiert": Für Kinder und Jugendliche verlieren Familie und Familienerziehung an Bedeutung.

Die Kindheit wird zunehmend vergesellschaftet: Kleinkinder werden immer früher und immer länger betreut; beispielsweise will die Bundesregierung in den nächsten Jahren für 20% aller Unter-Dreijährigen Ganztagsbetreuungsangebote schaffen. Zugleich sollen verstärkt ihre kognitiven, motivationalen und personalen Kompetenzen gefördert, sollen sie schon im Kleinkindalter gebildet werden. So werden derzeit in vielen Bundesländern Bildungspläne für Kindertageseinrichtungen entwickelt. Ältere Kinder bleiben zunehmend auch am Nachmittag in der Schule oder gehen in andere Einrichtungen; bei Problemen helfen nicht mehr die Eltern, sondern Schulsozialarbeiter/innen, Fachkräfte in Jugendfreizeitstätten, Jugendberater/innen, Jugendtelefon und Beratungsangebote im Internet.

Und wie lange wird es noch dauern, bis auch die Reproduktionsfunktion der Familie vergesellschaftet wird? Durch die In-vitro-Fertilisation kann heute schon die Befruchtung außerhalb des Körpers vollzogen werden - in wie viel Jahren wird ein Embryo auch extrauterin herangezogen werden können? Werden Frauen die Belastungen durch Schwangerschaft und Geburt erspart bleiben? Werden wir in 10 Jahren den Zusammenbruch unseres Sozialstaates dadurch abzuwenden versuchen, dass wir auch die Reproduktion vergesellschaften und die dann ohne Eltern entstandenen Kinder von Anfang an professionell betreuen, erziehen und bilden?

Literatur

Hochschild, A.R.: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Opladen: Leske + Budrich 2002

Metzinger, A.: Kindsein heute: Zwischen zuviel und zuwenig. München, Mering: Rainer Hampp Verlag 2002