Pflegemütter im Spannungsfeld von Mutteridealen und Familienkonzept

Martin R. Textor

 

Weibliche Pflegepersonen werden "Mütter" genannt, und was liegt da näher, als sich auch als "Mütter" zu verstehen? Als solche werden sie mit den in unserer Gesellschaft vorherrschenden Mutterbildern konfrontiert. Dazu gehören beispielsweise:

  • Das traditionelle Mutterideal: Mutterschaft gilt als Lebenssinn und "Essenz" der Weiblichkeit. Mütter sollen - zumindest so lange die Kinder klein sind - zu Hause bleiben und sich intensiv um ihre Kinder kümmern, da Kinder für eine gesunde Entwicklung die totale Präsenz der Mutter benötigen.
  • Die Madonna: Analog zur Jungfrau Maria ist die ideale Frau Mutter und asexuell. Auch heute noch werden von Teilen der Gesellschaft Mutterschaft und Sexualität als einander ausschließend betrachtet: Je sexueller eine Frau ist, umso wenig mütterlich wird sie wahrgenommen.
  • Die Supermutter: Sie ist eine attraktive Sexualpartnerin, eine erfolgreiche Berufstätige, eine perfekte Hausfrau und eine gute Mutter. Als "Beziehungsexpertinnen" sichern sie eine befriedigende Partnerschaft mit ihrem Mann und entwicklungsfördernde Eltern-Kind-Beziehungen, ohne dass die eigene Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsintegration zu kurz kommen. Trotz ihrer Vollerwerbstätigkeit ist der Haushalt in Ordnung, haben sie genügend Zeit für ihre Kinder, pflegen sie viele soziale Kontakte.
  • Das Drei-Phasen-Modell: Junge Frauen sollen nach einer guten Schul- und Berufsausbildung trachten und so lange ihren Beruf ausüben, bis das erste Kind geboren wird (1. Phase). Dann sollen sie die Erwerbstätigkeit aufgeben und sich ihren Kindern widmen (2. Phase). Wenn diese relativ selbstständig geworden sind, können sie in die Arbeitswelt zurückkehren (3. Phase).
  • Die "neuen" Mütter: Hier handelt es sich um Frauen aus der Mittelschicht, die nach der Geburt eines Kindes auf eine Berufsausübung verzichten, ohne das traditionelle Mutterideal zu übernehmen. Sie suchen in der Beziehung zum Kind die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, die Sicherung der eigenen Identität und Selbstverwirklichung - was ihnen der Beruf nicht bietet.

Diese Mutterideale sind mit einer Reihe von Problemen verbunden. Beispielsweise wird die Verantwortung für die Erziehung der Kinder - und damit auch für eine gelingende Entwicklung - den Müttern aufgebürdet. An die Mutter werden extrem hohe Erwartungen gerichtet, die leicht zu Überlastung und Stress führen können, insbesondere wenn sie gleichzeitig einen Beruf ausüben und den Haushalt managen soll. Da Mutterschaft aber etwas "Wunderbares" ist, darf diese nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Und da sie im Wesen der Frauen liegt und etwas Natürliches ist, sind keine besonderen Qualifikationen für sie notwendig. So haben Mütter nur einen geringen gesellschaftlichen Status, wird Erziehung nicht entlohnt.

Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere von feministischer Seite diese Mutterideale immer wieder kritisiert wurden: Orientieren sich Frauen an ihnen, müssten sie mit vielen Problemen rechnen. Dies gilt im verstärkten Maße für Pflegemütter, da sie mit einer besonders widersprüchlicheren und verwirrenderen Situation konfrontiert werden: Obwohl sie als Mütter bezeichnet werden und oft auch so von den ihnen anvertrauten Kindern gesehen werden, sind sie keine leiblichen Mütter. Sie haben die Kinder nicht geboren und sind mit ihnen nicht verwandt. Auch stehen sie nicht in einem anderen, von unserer Gesellschaft als "normal" bezeichneten Verhältnis zu den Kindern, d.h., sie sind weder Stiefmütter noch Adoptivmütter. So kommt letztlich keines der skizzierten Mutterbilder für sie wirklich in Frage - weder das traditionelle Mutterideal noch das Bild der Supermutter, das Drei-Phasen-Modell oder das Leitbild der "neuen Mutter". Höchstens träfe die Vorstellung der Madonna zu - auch bei Pflegemüttern wird die Sexualität abgespalten, gibt es keine Empfängnis und sogar keine Geburt. Und wie bei der Madonna gibt es - zumindest in Teilen der Gesellschaft - eine Erhöhung der Pflegemutterschaft: das Bild von Frauen, die für arme, verlassene, misshandelte, behinderte oder verstoßene Kinder die Mutterrolle übernehmen. Aber auch dieses Mutterideal führt letztlich nicht weiter.

Während schon die gesellschaftlichen Erwartungen an "echte" Mütter sehr hoch sind, so sind - wie schon angedeutet - die Anforderungen an Pflegemütter noch höher. Bei der Erziehung der ihnen anvertrauten Kinder haben in der Regel die leiblichen Eltern versagt; die Ersatzmütter sollen es nun besser machen. Ja, sie sollen nicht nur die Kinder "normal" erziehen, sondern auch die aus der missglückten Sozialisation in der Herkunftsfamilie resultierenden Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen und seelischen Behinderungen ausgleichen. Letztlich wird von ihnen erwartet, dass sie "Supermütter" sind - auf jeden Fall sollen sie viel besser als die leiblichen Mütter sein. Diese spielen aber weiterhin eine große Rolle im psychischen Erleben der Kinder. So entsteht zusätzlich eine Konkurrenzsituation, mit der "normale" Mütter nicht konfrontiert werden, - eine Wettbewerbssituation, die leicht zu Konflikten mit dem jeweiligen Kind oder seinen leiblichen Eltern führen kann.

Im Gegensatz zu leiblichen Müttern ist die gesellschaftliche Kontrolle größer, da das Jugendamt für das Pflegekind zuständig bleibt. Da Pflegekinder oft einer heilpädagogischen oder psychologischen Behandlung bedürfen, wird zugleich impliziert, dass "mütterliche" Erziehungstätigkeit allein nicht ausreicht: Selbst "Supermütter" bedürfen der Unterstützung durch Therapeuten. Letztlich wissen nur die gut bezahlen Spezialisten, wie eine Frau "richtig" erzieht - siehe die Unmenge an Erziehungsratgebern und Elternzeitschriften, die sich fast immer nur an Mütter wenden.

Hier wird deutlich, dass Pflegemütter trotz der genannten Unterschiede dennoch Vieles mit "normalen" Müttern gemeinsam haben:

  • Die erzieherische Tätigkeit wird als Aufgabe von Frauen festgeschrieben; Pflegeväter spielen eine nachgeordnete Rolle, da sie in anderen Berufen voll erwerbstätig sind.
  • Ihre Qualifizierung erfolgt auf einem recht niedrigen Niveau, sodass sie in schwierigen Erziehungssituationen auf die Hilfe von Fachleuten angewiesen sind.
  • Sie werden seitens der Gesellschaft mit hohen Erwartungen hinsichtlich ihrer erzieherischen Tätigkeit konfrontiert. So kommt es leicht zu Überforderung, Stress und Überlastung.
  • Pflegemütter haben einen niedrigen sozialen Status und erfahren wenig gesellschaftliche Anerkennung. Auch werden sie für ihre Erziehungstätigkeit schlecht bezahlt.
  • Die Ansprüche des eigenen Partners und der leiblichen Kinder müssen mit den Anforderungen durch die anvertrauten Kindern ausbalanciert werden. Hier kommt es leicht zu Mehrfachbelastung und Stress.

Trotz dieser Überschneidungen wird aber deutlich, dass Pflegemütter letztlich wenig Orientierung bei den tradierten und modernen Mutterbildern finden. Sehen sie sich zu sehr als "Mütter", wird dies bald zu Verwirrung, Verunsicherung, Ambivalenz, Frustration, Unzufriedenheit, psychischen Konflikten u.Ä. führen. Sie sind nun einmal keine leiblichen Mütter, die von der Empfängnis bzw. der Geburt an für ein Kind verantwortlich sind und dieses von Anfang an positiv beeinflussen können. So kann für sie "Ersatzmutterschaft" nicht "Essenz der Weiblichkeit" oder "Lebenserfüllung" sein. Sie haben die Verantwortung für Kinder übernommen, deren biologischen Eltern zumeist noch leben, - die Verantwortung für zumeist in ihrer Entwicklung gestörte Kinder, bei denen das "normale Beziehungsexpertentum" von Frauen, ihre Intuition oder so etwas wie "in ihrer Natur liegende Mütterlichkeit", wie "Mutterliebe" oder "Mutterinstinkte" nicht ausreichen. Deshalb sollten sich Pflegemütter insbesondere von den verklärenden und überfordernden Aspekten der Mutterideale distanzieren: Sie sind keine "Supermütter" oder "Heilsbringer"; sie haben nicht die Alleinverantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder und können sie nicht ohne Weiteres zu glücklichen Menschen machen; sie können ihnen nicht immer nur starke positive Gefühle entgegenbringen, sondern müssen auch negative zulassen.

Pflegemütter sollten deshalb eine ihnen eigene, eine ganz besondere Identität entwickeln, die nur zum Teil Aspekte von Mutteridealen enthalten kann. Vorrangig sollte m.E. die Professionalisierung sein: Pflegemütter leisten Erziehungsarbeit, die mit großen physischen und psychischen Belastungen verbunden ist. Als Arbeitende sollten sie eine Identität als Berufstätige entwickeln und sich an Erwartungen hinsichtlich einer angemessenen Berufsausübung orientieren. Je schwieriger die ihnen anvertrauten Kinder sind und je größer deren Anzahl ist, umso wichtiger wird ihre Professionalisierung.

Auch Familienkonzepte haben Grenzen

Ähnliches gilt für die Orientierung am Konzept der "normalen" Familie. Pflegefamilien sind nur in Teilaspekten mit "Normalfamilien" vergleichbar. Identifizieren sich Pflegemütter mit den in unserer Gesellschaft vorherrschenden Familienleitbildern, können demzufolge große Probleme auftreten: Beispielsweise ignorieren sie dann leicht, dass Pflegekinder "Kinder auf Zeit" sind, die laut § 33 SGB VIII letztlich nur so lange in Familienpflege bleiben sollen, bis sich die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie verbessert haben. Selbst wenn Pflegekinder bis zur Volljährigkeit oder gar darüber hinaus in der Pflegefamilie bleiben, werden sie nicht zu leiblichen Kindern, werden die Kontakte später immer lockerer.

Bei der Orientierung an den in der Gesellschaft vorherrschenden Familienleitbildern ignorieren Pflegemütter auch zu oft, dass es noch biologische Eltern gibt, die häufig das Kind lieben - und noch häufiger von diesem geliebt werden. Sie stürzen die Pflegekinder damit in Loyalitätskonflikte oder "zwingen" sie, ihre Gefühle zu verheimlichen. Auch tendieren sie dann dazu, Kontakte zur Herkunftsfamilie zu erschweren und diese dem Kind gegenüber abzuwerten. Schließlich erleben sie die geplante Rückführung ihres Pflegekindes als Angriff auf ihre Familie und stürzen sich in Auseinandersetzungen mit der Jugendbehörde bis hin zu Gerichtsprozessen.

Identifizieren sich Pflegemütter mit den in unserer Gesellschaft vorherrschenden Familienleitbildern, ignorieren sie oft, dass ein schwer verhaltensauffälliges, psychisch gestörtes oder entwicklungsverzögertes Kind der professionellen Hilfe bedarf. Sie glauben, dass es zur "Gesundung" ausreicht, wenn es in einer "normalen" Familie mit liebevollen Pflegeeltern lebt. Damit erhalten manche Pflegekinder nicht - zumindest nicht frühzeitig - eine dringend benötigte heilpädagogische oder psychotherapeutische Behandlung, wird dem Kindeswohl nicht genügt.

Ein neues Leitbild: Pflegemütter als Professionelle

So zeigt sich also analog zur Analyse der Mutterideale, dass es nur begrenzt sinnvoll ist, sich an Familienkonzepten zu orientieren. So plädiere ich erneut für die Professionalisierung von Pflegemüttern: Gelingt es ihnen, sich von Mutter- und Familienleitbildern zu distanzieren, dann akzeptieren sie eher die leiblichen Eltern der ihnen anvertrauten Kinder und sind weniger geneigt, mit ihnen zu konkurrieren und sie vor den Kindern schlecht zu machen. Sie sind eher zu einer Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern bereit, wie dies in § 37 Abs. 1 SGB VIII von ihnen verlangt wird. Dann können sie einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Eltern-Kind-Beziehungen und eventuell sogar zur Verbesserung der Entwicklungsbedingungen in der Herkunftsfamilie leisten. Schließlich werden sie zum Abschluss der Jugendhilfemaßnahme "Vollzeitpflege" die Reintegration des Kindes in seine Herkunftsfamilie fördern.

Erleben sich Pflegemütter als Professionelle, akzeptieren sie eher, dass die "normalen" erzieherischen Fähigkeiten von "Ersatzeltern" aufgrund der besonderen Anforderungen durch die ihnen anvertrauten Kinder in der Regel nicht ausreichen, sondern dass sie einer Weiterqualifizierung bedürfen. Und sie akzeptieren eher, dass es bei Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen oder Entwicklungsverzögerungen der Kinder - und insbesondere während der Eingewöhnungszeit - oft notwendig ist, die Hilfe von Therapeuten und anderen Spezialisten einzuholen. Dies könnte zumindest bei Pflegefamilien zu einer Reduzierung der Zahl der Pflegestellenabbrüche führen. Zugleich dürfte diese Haltung die Bereitschaft zur Kooperation mit Jugendbehörden erhöhen.

Letztlich lässt sich die Grundaussage meines Artikels in folgendem Satz zusammenfassen: Meines Erachtens sollten sich Pflegemütter von den in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Mutteridealen und Familienkonzepten distanzieren und sich selbst als "Professionelle" verstehen. Wie z.B. in § 37 Abs. 1 SGB VIII könnten sie sich als "Pflegepersonen" bezeichnen. Mein Definitionsvorschlag: "Eine Pflegeperson ist eine erzieherisch tätige Fachkraft der Jugendhilfe, die in einer Lebensgemeinschaft mit ihr seitens des Jugendamtes anvertrauten Kindern und Jugendlichen lebt, enge Beziehungen zu ihnen eingeht und sie nach bestimmten, zum Teil in einem Hilfeplan vorgegebenen Ziele positiv zu beeinflussen versucht". Die enge Beziehung zu den Kindern sollte nicht der Eltern-Kind-Bindung entsprechen, sondern einem "pädagogischen Bezug" im Sinne Herman Nohls oder einer "dialogischen" Beziehung im Sinne Martin Bubers.

Als eine "Professionelle" bedarf die Pflegeperson einer besonderen sozialpädagogischen Ausbildung, aber auch der Fortbildung und Supervision. Und dies bedeutet nicht zuletzt, dass sie auch einen Anspruch auf einen angemessenen Lohn und eine "normale" soziale Absicherung hat. So sollte sie vom Jugendamt oder einem freien Träger der Jugendhilfe fest angestellt werden.